Religionswandel als Chance für neue Spiritualität

Wieviel Religion verträgt die Gesellschaft?

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum Thema "Religion und Gesellschaft" diskutierten der deutsche Islamwissenschaftler Navid Kermani und der Linzer Dogmatiker Franz Gruber im Stift Seitenstetten über das Verhältnis zwischen Religion und Staat.

Der Theologe Franz Gruber zum heutigen Weltbild

Zum Thema "Religion und Gesellschaft“ lud die Superioren-Konferenz der männlichen Ordensgemeinschaften Österreichs in fünf österreichische Klöster ein. Eine der Gesprächsreihen fand im Stift Seitenstetten in Niederösterreich statt.

Der deutsche Schriftsteller und Islamwissenschaftler Navid Kermani und der Linzer Dogmatiker Franz Gruber diskutierten dort über das Verhältnis zwischen Religion und Staat. Ihr Thema: Wieviel Religion verträgt die Gesellschaft? Hat die Religion in der EU einen Platz, oder setzt sich eine agnostische bzw. militant antireligiöse Haltung durch?

Die vermeintliche Lösung

Religion sei Privatsache und der Staat öffentliche Angelegenheit: Das war die Lösung, die europäische Denker und Staatsmänner fanden, um den europäischen Religionskriegen der Neuzeit ein Ende zu bereiten.

Doch durch Jahrhunderte gab es in der Person des Herrschers eine enge Verbindung zwischen den Christentümern der verschiedenen Konfessionen und der staatlichen Gewalt. Dies setzte sich im 20. Jahrhundert in den verschiedenen christlichen Diktaturen fort. Die letzte endete in Spanien erst vor genau 30 Jahren.

Das säkulare Europa heute

In den weltanschaulich neutralen Staaten stellt sich heute die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Religion neu - nicht zuletzt durch den offenkundigen Religionswandel in Europa. Die Religion ist auf die Bühne der Geschichte zurückgekehrt. Begonnen hat das mit der iranischen Revolution 1979 und der Etablierung der islamischen Republik Iran. Seither ist das Verhältnis von Religion und Gesellschaft wieder ein Thema:

"Das Verhältnis zwischen Kirche und Gesellschaft befindet sich in Europa zur Zeit in einem fundamentalen Wandel", sagt der Linzer Fundamentaltheologe Franz Gruber. Dieser Wandel betreffe beide Seiten: die Kirche und die Gesellschaft. Die bisherige Gestalt der Kirche sei zu Ende: "Von der Religion erwartet man heutzutage, Trost und Halt für die Krisen des Lebens zu geben, sie ist eine Art Auffangnetz für die Gesellschaft. Weltbildgebung ist Sache der Wissenschaft. Politik, Ökonomie und Recht wird zur Orientierungssteuerung für die gesellschaftlichen Prozesse", meint Gruber.

Ersatzreligionen im Vormarsch

Navid Kermani, deutscher Schriftsteller und Islam-Wissenschaftler, stammt aus dem Iran, und lebt seit Kindertagen in Deutschland. Er ist Moslem, und in seinen Büchern setzt er sich immer wieder mit dem Thema Religion auseinander. "Die Menschen in Europa vergessen ihre eigene Geschichte", meint er: "Umfragen zeigen, dass immer mehr Menschen nicht mehr wissen, was die großen christlichen Feste wie z. B. Ostern bedeuten. Die Diskussion über das christliche Europa erübrigt sich, wenn man gar nicht mehr weiß, worum es geht".

Hinzu komme - so Kermani - dass sich die religiösen Parameter in Europa ändern: "Die Esoterik z. B. oder auch die Filmindustrie liefern heute Versatzstücke für eine Ersatzreligion. - Wieviel Religion verträgt die Gesellschaft? Wenn sich diese Frage auf die Europäische Union bezieht, geht es vor allem um eine Institution, und das ist dann eine andere Sache. Das Entscheidende an Europa ist jedoch die Säkularität, die sich die Europäer im Verlaufe der letzten Jahrhunderte erarbeitet haben".

Säkularisierung als Chance?

Der Linzer Fundamentaltheologe sieht im europäischen Religionswandel auch die Grundwerte der säkularen Gesellschaft bedroht: "Das Christentum muss sich heute neu positionieren. Die große Herausforderung an das Christentum ist: Wie kann eine neue christliche Spiritualität entstehen?" Diese Frage sei entscheidend.

Nach Meinung Grubers fehle auch eine klare Verbindung zwischen der Erfahrung Gottes und sozialem, politischen und solidarischem Handeln. Heute sei das Christentum in Europa in der Krise, weil es seinen selbstverständlichen Platz in der Gesellschaft verloren habe. Es sei auf dem Weg ins Exil - und in eine neue Zukunft.

"Weder das Christentum noch der Islam passen so einfach in die heutige Zeit", sagt auch Navid Kermani. Säkularisierung und Machtverlust seien aber für die Religion - sowohl für die Muslime wie für die Christen - eine Chance, zu ihrer Wahrheit zurückzufinden.

Hör-Tipp
Logos, Samstag, 4. Februar 2006, 19:05 Uhr

Download-Tipp
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Superiorenkonferenz