Leset Gert Jonke!
Der Sprachmaschinist
Gert Jonke war lange Zeit ein Außenseiter, ein liebenswürdiger Besessener, ein im eigenen Kosmos eingesponnener Sprachalchimist, dessen Texte sich jeder Zuordnung entzogen. Das hat deren Lektüre nicht gerade einfach gemacht. Ein Erfahrungsbericht.
8. April 2017, 21:58
Wie lernt man einen Schriftsteller kennen? Also nicht den Schriftsteller selbst, sondern seine Bücher? Und das in einer Umgebung, in der Bücher für die Sozialisation eines jungen Menschen eher als hinderlich angesehen wurden? Zufällig, würde ich sagen. Wenngleich hinter dem Zufall eine verdeckte Absicht stecken mag, denn letztlich geht man dem Zufall immer auch ein Stück entgegen.
Lassiter und Larry Brent
Mein Großvater las ausschließlich Heftromane, die im Wildwestmilieu angesiedelt waren. "Lassiter" hieß die Reihe. Mein Vater las Kriminalromane, auch in Heftform, und meine Mutter Liebesromane. Ich las bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr gar nichts. Außer hie und da einen Gruselkrimi, in dem der Held Larry Brent hieß und unter dem Decknamen X-Ray-3 Monster jagte.
In diesen Texten erfuhr ich nichts über die Welt. Ich erfuhr etwas über andere Welten und seltsame Geschöpfe, die aus diesen in die unsrige übertraten, um irgendwelche Rechnungen zu begleichen oder einfach unter Beweis zu stellen, dass alles Diesseitige böse ist. Ich glaubte den Schilderungen von anderen Welten allerdings nicht. Wie denn auch, wenn sich ein Autor Dan Shocker nennt. Aber sicher hatte ich manchmal schlechte Träume.
Mailer und Calvino
Wie also lernt man unter diesen Umständen Literatur kennen, die man welthaltig nennen kann? Wie lernt man überhaupt zu unterscheiden, was ein guter und was ein schlechter Text ist? Vom Zufall war vorhin die Rede. Zufällig entdeckte ich in einem Schrank meiner Großeltern ein Exemplar von Norman Mailers "Die Nackten und die Toten". Zufällig hatte man einen Teil der aufgelassenen Werksbibliothek im Haus der Großeltern zwischengelagert. Durch dieses Buch erfuhr ich zum ersten Mal etwas über Vietnam, über den Krieg und über menschliches Verhalten in Extremsituationen. Das hatte nichts mehr mit der omnipräsenten Coolness eines Larry Brent zu tun.
Zufällig fragte mich eines Tages eine Schulfreundin, ob ich schon einmal Calvino gelesen hätte. Hatte ich nicht. Ich hatte den Namen überhaupt noch nie gehört und überlegte, wer dieser Karl Wiener sein könnte. Dann drückte sie mir "Wo die Spinnen ihre Nester bauen" von Italo Calvino in die Hand und als Draufgabe "The Best of H. C. Artmann". Damit war ich fürs Erste einige Wochen lang beschäftigt.
Lustiger Bernhard
In einer Deutschstunde drückte mir der Lehrer einmal ein Buch eines Autors in die Hand, von dem ich noch nie gehört hatte, und bat mich, die ersten Seiten laut vorzulesen. Ich las:
Eine Famulatur besteht ja nicht nur aus dem Zuschauen bei komplizierten Darmoperationen, aus Bauchfellaufschneiden, Lungenflügelzuklammern und Fußabsägen, sie besteht wirklich nicht nur aus Totenaugenzudrücken und aus Kinderherausziehen in die Welt.
Vielmehr versuchte ich, diesen Satz zu lesen, ich kam aber nicht sehr weit, da ich ununterbrochen lachen musste, mit mir allmählich die ganze Klasse und am Schluss auch der Lehrer. Ich begriff nicht, wer aus welchem Grund einen solchen Unsinn schreiben konnte, aber ich kaufte das Buch trotzdem. Es hieß "Frost" und war von Thomas Bernhard. Im Lauf der Jahre war ich süchtig nach diesem Autor.
André Hellers Tipp
Dieselbe Freundin, die mir den Calvino und den Artmann in die Hand gedrückt hatte, flüsterte mir einmal im Autobus zu, sie habe sich die neue André-Heller-Platte gekauft. Den kannte ich allerdings und den mochte ich auch, also freute ich mich darauf, bei Einbruch der Dunkelheit dem singenden Poeten aus Wien zu lauschen. Die Platte hieß "Verwunschen" und war irgendwie nicht so gut wie die vorigen, doch fiel mir auf dem Cover, am Ende der üblichen Danksagungslitanei, ein altmodisch formulierter Satz auf: Leset Gert Jonkes Roman "Der ferne Klang"!
Entweder war das ein Witz oder eine ernst gemeinte Aufforderung, beides traute ich Heller zu, also ging ich in eine Buchhandlung und erfuhr, dass es in der Tat einen Roman dieses Titels gab. Verfasst von einem gebürtigen Klagenfurter, der zehn Jahre zuvor mit einem "Geometrischen Heimatroman" aufgefallen war und der sich zudem mit dem ersten, 1977 vergebenen, Ingeborg-Bachmann-Preis schmücken durfte.
Vielstimmiger Jonke
Ich kaufte Gert Jonkes "Der ferne Klang" und begann, den bis dahin schwierigsten Text meines Lebens zu lesen. Bis dahin hatte ich mich vor allem über Hesse, Böll, Handke, Bernhard, Camus und Sartre selbst der Literatur des 20. Jahrhunderts angenähert, vollkommen unsystematisch natürlich, wie bei einem unübersichtlichen Puzzle. Man fängt einfach an, irgendwo in der Mitte oder am Rand. Aus einer verwirrenden Vielfalt von Einzelteilen bildet sich plötzlich, beinahe zufällig, eine zusammenhängende Reihe, Kontexte werden ersichtlich, historischer oder ästhetischer Art. Die Literatur fügt sich so zu einer großen Erzählung, zu einem einzigen, vielstimmigen Text, der an unendlich vielen Stellen von anderen Autoren wiederum in unendlich viele Richtungen weitergeschrieben wird.
Ich machte durch die Lektüre des "fernen Klangs" die Erfahrung, dass ein Text, der scheinbar keiner klaren Richtung folgt, der selbst ein vielstimmiges, vielgestaltiges Gewebe darstellt, der sozusagen das große Textuniversum im Kleinen abbildet, nicht bloß durch Aufbringung von Konzentration und Willen überwindbar ist. Damit wäre ja noch nichts gewonnen. Vielmehr merkte ich, dass die schwierigen Lektüren die nachhaltigsten sind. Es gibt schließlich nicht viele Bücher, mit denen man Wochen und Monate, mitunter sogar Jahre verbringt. Aber diese Bücher ziehen einen mit engmaschigen Netzen hinein in das Textuniversum, während andere einen auf halbem Weg schon loslassen.
All die Wahnsinnsbücher
Ich habe mich durch den "Ulysses" gequält, durch Prousts "Recherche", durch Uwe Johnsons "Jahrestage", durch Hans Henny Jahnns "Fluss ohne Ufer", durch Canettis "Blendung", durch Albert Vigoleis Thelens "Insel des zweiten Gesichts", durch Doderers "Dämonen" und durch Jonkes "Der ferne Klang". Ich habe diese Bücher mehrmals verstoßen, habe sie von mir ferngehalten, sie mit Flüchen belegt und doch immer wieder zur Hand genommen und weitergelesen. Und wenn es sein musste, habe ich noch einmal mit der Lektüre angefangen.
Aber: Diese Bücher sind immer noch in mir, sie sind mit mir verwachsen (oder bin ich es mit ihnen?). Mit vielen Büchern habe ich mir die Zeit vertrieben, meinen Beruf legitimiert, mich gelangweilt, mich unterhalten oder meinen Wissensstand angereichert. Die vorhin genannten Bücher taugen zu nichts dergleichen. So wie gute Kunst zu nichts weiter taugt als zur existenziellen Erschütterung des Rezipienten, "so dass", um aus Gert Jonkes "Der ferne Klang" zu zitieren, "deine Schädeldecke die luftige Leinwand des Himmels durchstößt und dein Hals vom Rahmen des Firmaments geschlossen umgeben wird wie von einem Halskrausenkragen des Äthers."
Eben. Leset Gert Jonkes Roman "Der ferne Klang"! Und all die anderen Wahnsinnsbücher der modernen Literatur. Lasset die Hoffnung nicht fahren, dass ihr daran nicht zerschellt.
Hör-Tipp
Tonspuren, Freitag, 3. Februar 2006, 22:15 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipp
Gert Jonke, "Der ferne Klang", Jung und Jung Verlag, ISBN 3902144297