Oliver Rathkolb im Gespräch
Auf der Suche nach der Seele Europas
Europa lässt sich infolge des Kalten Krieges in zwei Hälften teilen: Gulag-Gedächtnis dort, Holocaust-Gedächtnis hier. Für seine Vereinigung braucht Europa eine Renaissance der Kultur und des Wissens. Und eine neue Perspektive auf seine Geschichte.
8. April 2017, 21:58
Oliver Rathkolb im Gespräch mit Michael Kerbler
Michael Kerbler: Herr Dr. Rathkolb, Sie waren am vergangenen Wochenende in Salzburg. Sie haben an der Großveranstaltung der Europäischen Union "Sound of Europe" teilgenommen. Einer der Teilnehmer war Erhard Busek, der Koordinator für den Stabilitätspakt am Balkan. Er sagte "Wenn die Amerikaner an ihre Nation denken, dann greifen sie ans Herz. Wenn die Europäer an Europa denken, greifen sie sich an den Kopf". Ist es so, dass die Vorstellung von einem geeinten Europa so lange eine Wunschvorstellung bleibt, so lang wir es nicht schaffen, aus der Kopfgeburt ein Europa zu machen, das eine Seele hat?
Oliver Rathkolb: Ich würde dem nur noch eines hinzufügen. Es war noch dazu eine "Kopfgeburt unter Zwang". Für mich ist die europäische Integration nach 1945 mit den bekannten institutionalisierten Zwischenstationen in den 40er, 50er Jahren bis in die Gegenwart auch ein Teil des Kalten Krieges.
Ich glaube, unser großes Problem in der Gegenwart ist, dass wir den Kalten Krieg völlig verdrängt haben, wie wenn es ihn nie gegeben hätte. Gleichzeitig hat er aber die europäische Integration geformt, er hat auch die Amerikaner letzten Endes dazu gebracht, in den europäischen Raum unglaublich zu investieren - Stichwort Marshallplan, aber auch große europäische Initiativen in Richtung der Integration der Bundesrepublik Deutschland in den westlichen Block. Und seit 1989/90, spätetsens seit der Einigung Deutschlands stehen wir eigentlich vor einer völlig neuen Situation, dass wir plötzlich Europa neu finden müssen. Also wir sind nach wie vor - um ein bekanntes Klassikerzitat abzuwandeln - auf der Suche nach der Seele Europas.
Was für mich auf dieser Konferenz in Salzburg extrem spannend war: Zum ersten Mal haben auch hohe politische Entscheidungsträger begonnen, diesen "soft factor" Gefühl und Identität zumindest anzutippen. Also hier entsteht etwas, glaube ich, was helfen könnte, Europa als Ganzes zu verstehen und zu denken.
Was mir aber auch in Salzburg aufgefallen ist, ist dass nach wie vor sich Europa, eben infolge des Kalten Krieges, vom Kopf her nach wie vor in zwei Hälften teilen lässt. In die Hälfte der ehemaligen kommunistischen Staaten, die natürlich auch eine andere Geschichte haben. Wir brauchen nur das Jahr 1945 nehmen für das kollektive Gedächtnis der Osteuropäer, aber auch der baltischen Staaten, aber auch für viele andere Gesellschaften von der Ukraine bis in die Russische Föderation, bedeutet 1945 natürlich auch den Beginn der Integration in das kommunistische System, bedeutet das Verfolgung etcetera. Das heißt es entsteht natürlich auch ein "Gulag-Gedächtnis", das nach wie vor wirksam ist. Wohingegen der westeuropäische Bereich sich zunehmend in Richtung eines "Holocaust-Gedächtnisses" bewegt.
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Im Gespräch, Donnerstag, 2. Februar 2006, 21:01 Uhr
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