Die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg
Europas letzter Sommer
David Fromkin ist Professor für Geschichte an der Boston University und Autor zahlreicher Bücher, die internationale Anerkennung fanden. 1989 schrieb er das Standardwerk "A Peace to End All Peace: Creating The Modern Middle East 1914 - 1922".
8. April 2017, 21:58
Das "Zivilisierte Alte Europa" - man vermutet hinter diesem Begriff im amerikanischen Original die oft gebrauchte Formulierung "Good Old Europe" - habe, so David Fromkin, bereits mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs das gesamte 20. Jahrhundert unwiderruflich zu einem Kriegsjahrhundert gemacht.
Im Jahr 1914 war für die Bürger Europas ein Krieg unvorstellbar. Sie genossen Frieden und Wohlstand. Und doch liefen die Kriegsvorbereitungen in den Kaiserreichen Deutschland und Österreich-Ungarn auf Hochtouren - unbemerkt von der Öffentlichkeit.
Nicht erst der Zweite Weltkrieg mit seinen besonderen Gräueln sei es gewesen, der die Erwartungen ganzer Generationen zerstörte, sondern schon jener Sommer mit seiner besonderen Süße und seinen besonderen Erwartungen habe den Keim nicht nur für den Ersten, sondern auch für den Zweiten Weltkrieg bereits in sich getragen. Er sei die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" gewesen.
Unerwarteter Ausbruch
Einmal, so schreibt Fromkin, der an der Boston University Geschichte lehrt, habe er seine Studenten gefragt, wodurch und wann nach ihrer Meinung der Erste Weltkrieg direkt oder indirekt ausgelöst worden sein könnte. Die Antworten hätten von der Spaltung des Römischen Reiches im 4. Jahrhundert nach Christus bis zu ersten Marokko-Krise im Jahr 1905 gereicht.
Alle diese Antworten waren in mancher Hinsicht richtig. Doch zugleich sind dies alles auch falsche oder unzureichende Antworten. Noch 37 Tage vor dem Ausbruch des Großen Krieges machte die europäische Welt einen recht friedlichen Eindruck. Die politischen Führer Europas traten ihre Sommerurlaube an, und keiner von ihnen rechnete damit, in seinen Ferien gestört zu werden.
Spielm mit Assoziationen
"Der letzte Sommer", das ist ein Bild, das an eine bestimmte Sorte von belletristischen Romanen erinnert, an schwermütige Biografien von Menschen, die aus der Mitte des Lebens gerissen werden, die das Blau des Himmels und das Grün der Bäume noch einmal genießen, während ihre Zeit fast schon abgelaufen ist. Nicht nur der Titel des Buches spielt ganz bewusst mit solchen Assoziationen; das ganze Buch tut es, und es bezieht die letzten, weltweit einschneidenden historischen Traumata mit ein.
Am 11. September 2001 zerstörten die Selbstmordanschläge islamischer Fundamentalisten das Herz von Lower Manhattan und brachten rund 3.000 Menschen den Tod. Osama Bin Laden erklärte in seiner ersten Videobotschaft, dies sei eine Vergeltung für ein Unrecht, das vor acht Jahrzehnten geschehen sei. Er meinte damit vermutlich das Vordringen der christlichen europäischen Mächte - als Konsequenz des Ersten Weltkriegs - in den von Muslimen beherrschten Mittleren Osten. (...) Es waren europäische Staaten, die die neuen Grenzen in der Zeit des Ersten Weltkrieges und unmittelbar danach gezogen haben. 1914 sah die politische Landschaft anders aus als heute. Israel, Jordanien, Syrien, der Irak und Saudi-Arabien existierten nicht. Weder der Libanon noch die Türkei waren Staaten.
Für Laien bestens geeignet
Das Buch ist nicht für Historiker, sondern für allgemein interessierte Leser geschrieben, das allerdings auf einem sehr hohen wissenschaftlichen Niveau. Für den Laien wird vieles nicht überprüfbar sein. Ihn hält die farbige, bildreiche Sprache des Buches bei der Stange, sowie der Detail- und Anspielungsreichtum.
Allein schon die Tatsache, dass hier ein versierter Autor die Geschichte des Ersten Weltkriegs spannungsreich zu erzählen versteht, ist eine Qualität, die dem Buch viele Leser bringen wird.
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
David Fromkin, "Europas letzter Sommer. Die scheinbar friedlichen Wochen vor dem Ersten Weltkrieg", aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans Freundl und Norbert Juraschitz, Blessing Verlag, ISBN 3896671839