Die Macht des ersten Eindrucks
Das Vorurteil im Leibe
Seit der Antike haben Philosophen und Gelehrte immer wieder versucht, von Äußerlichkeiten auf Innere Werte zu schließen und ihre Deutungsmuster zu systematisieren. Über den Drang, den Körper als Kennzeichen für moralische Eigenschaften zu instrumentalisieren.
8. April 2017, 21:58
M. Deix, Karikaturist & E. Oberzaucher, Verhaltensbiologin
Auch wenn wir es nicht gerne zugeben. Wir beurteilen andere ständig nach ihrem Äußeren, vor allem nach ihrem Gesicht. An der Form von Stirn, Nase, Mund und Augen, vor allem aber am Zusammenspiel einzelner Gesichtspartien, versuchen wir Wesen und Charakter einer Person zu erkennen. Weil wir das müssen, sagt die Verhaltensforschung.
Entwicklungsgeschichtliche Ursachen
Die Fähigkeit fremde Personen einschätzen zu können, war im Lauf der Evolutionsgeschichte überlebenswichtig, und ist bis heute die zentrale Grundlage für jede Form von sozialer Interaktion.
Wir können uns mit anderen nicht auseinandersetzen, ohne uns ein konkretes Bild von ihnen zu machen, sonst hätten wir keine Grundlage an der wir unser Verhaltung anderen gegenüber ausrichten und orientieren.
Das Erstaunliche daran ist, dass wir diese Einschätzung innerhalb von Millisekunden treffen. Sobald wir einen Menschen das erste Mal sehen. Dieser erste Eindruck ist meist auch richtig. Das hat eine Studie am Wiener Institut für Stadtethologie klar und deutlich gezeigt.
Einfluss der Sexualhormone
Der Verhaltensbiologe Karl Grammer hat gemeinsam mit Kollegen untersucht, wie genau wir zu einer treffsicheren Einschätzung einer Person kommen, und woran genau wir bestimmte Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale festmachen, wenn wir jemanden das erste Mal sehen.
Auch wenn die Studie mehr Fragen offen gelassen hat, als sie beantworten konnte, so hat sie dennoch interessante Zusammenhänge zwischen der Biologischen und psychologischen Ausstattung des Menschen gezeigt.
Eine Ursache für den Zusammenhang von Gesicht und Persönlichkeitsstruktur liegt in den vorgeburtlichen Sexualhormonen begründet. Denn Testosteron und Östrogen sind nicht nur für die Ausbildung und Form von Kinn und Wangenknochen verantwortlich, sondern haben auch entscheidenden Einfluss auf das Temperament einer Person.
Damit lässt sich etwa erklären, warum ein breites Kinn oft als energisch ausgelegt wird. Für beides ist ein hoher Testosteronspiegel in Wachstumsstadion des Fötus verantwortlich. Woran wir aber die Kooperationsbereitschaft, Freundlichkeit und emotionale Stabilität einer Person erkennen, ist weiterhin ungeklärt.
Der Blick hinter den Spiegel
Die Lücken die die empirische Forschung offen gelassen hat werden seit Menschengedenken mit Alltagsweisheiten und spekulativen physiognomischen Theorien gefüllt. Handbücher und Aufzeichnungen die vorgeben, das menschliche Gesicht entschlüsseln zu können, gehen zurück bis in die Antike. Und es waren keineswegs nur Quacksalber, Mystiker und Straßengaukler die sich dieser Form der Menschendeutung verschrieben haben, sondern auch Intellektuelle und Philosophen wie Aristoteles, Johann Wolfgang von Goethe oder Schweizer Theologe Johann Casper Lavater.
Von Lavater zur NS-Ideologie
Lavaters Suche nach dem Göttlichen im menschlichen Gesicht, das er an Ohren, Nasen und Stirn zu erkennen glaubte, markieren bis heute den Höhepunkt der Physiognomik. Er versuchte die Charakterdeutung anhand des Gesichts zur systematischen Wissenschaft auszubauen. Lavaters akribische Suche nach universellen Merkmalen für moralische Eigenschaften scheiterte kläglich.
Endgültig diskreditiert waren physiognomische Theorien erst nach ihrer Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten, die den Körper zum zentralen Instrument der Diffamierung und Ausgrenzung, vor allem von Juden, gemacht haben.
Fortwirkende Vorurteile
In Popkultur und Alltag freilich leben viele Klischees und Stereotype, die die lange Geschichte der Physiognomik hervorgebracht hat, weiter. Vor allem im Film und in der Karikatur. Dort, so die Sprachforscherin Ruth Wodak, wird die vermeintlich jüdische Hakennase Nase bis heute als Kennzeichen von Gier und Verschlagenheit verwendet. Der Körper ist also nach wie vor ein zentrales Instrument der Konstruktion von Vorurteilen und Stigmata.
Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 16. Jänner, bis Donnerstag, 19. Jänner 2006, 9:30 Uhr
Mehr dazu in Ö1 Programm
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendereihe "Radiokolleg" gesammelt jeweils am Donnerstag nach Ende der Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.
Link
Ludwig-Boltzmann-Institut - Stadtethologie