Roman Polanski in gewohnter Qualität

Oliver Twist

Oliver Twist ist wieder da. Der Klassiker von Charles Dickens ist schon als Stummfilm, als Schwarzweißfilm und als Musical verfilmt worden. Jetzt könnte Roman Polanski die definitive Leinwandversion gelungen sein.

Wer die Harry-Potter-Bücher für den Gipfel englischer Jugendliteratur hält, hat schon lang nicht mehr in den Romanen von Charles Dickens geblättert. Die verbinden spannende Geschichten mit scharfer Kritik an sozialen Ungerechtigkeiten. Mit ihrer unübertroffenen Kunstfertigkeit sind sie heute so aktuell wie zur Zeit ihrer Entstehung. Ein "Champion der Unterdrückten" sei Dickens gewesen, findet denn auch der englische Dramatiker Ronald Harwood, der jetzt, wie schon bei "Der Pianist", das Drehbuch zu Roman Polanskis Film geschrieben hat.

London in Prag

Polanski erzählt die Geschichte des Waisenknaben Oliver Twist, der in London Mitglied einer Taschendiebsbande wird, bevor ihn ein günstiges Schicksal vor weiteren Katastrophen bewahrt, im ruhigen Stil des Klassikers. In Prag hat sich Polanski ein enggassiges, verschlammtes London des frühen 19. Jahrhunderts nachbauen lassen, das er in sorgsam komponierten grau-braun-grünlichen Bildern auf die Leinwand bringt. Polanski hütet sich vor jeder aufgesetzten Modernisierung und belässt der Geschichte all ihre Bitterkeit. Konsequent genug verzichtet er auf den (zeitgebundenen) Schluss des Dickens-Buches, in dem sich Twist als adeliger Sprössling erweist.

Akzentverschiebung

Heikel ist die Figur des jüdischen Gauners Fagin, der eine Schar von Jugendlichen zu Taschendieben ausbildet. In der klassischen Verfilmung von David Lean hatte Alec Guiness diesen Part 1948 so einprägsam verkörpert, dass der Film im Nachkriegsdeutschland nur um entscheidende Fagin-Szenen gekürzt in die Kinos kam. Polanski setzt hier die Akzente anders: Sein Fagin ist, in der kongenialen Interpretation von Ben Kingsley, einfach ein bejammernswerter alter Trickdieb, der sich mühsam und listenreich über Wasser hält und zuletzt sogar von Oliver Twist bemitleidet wird. Jeder Verweis auf die jüdische Herkunft der Figur unterbleibt - auch sprachlich. Dennoch ist Drehbuchautor Harwood wohl zuzustimmen, wenn er sagt, diese Verfilmung trifft das Herz von Dickens' Buch. Der ideale Weihnachtsfilm für die viel zitierte ganze Familie? Hier ist er.

Oliver Twist
Großbritannien, 2005
Mit: Barney Clark, Ben Kingsley u. a.
Drehbuch: Ronald Harwood
Regie: Roman Polanski