Greifen Reformen oder droht Bürgerkrieg?

Linksruck in Bolivien

Vor dem neuen bolivianischen Präsidenten Evo Morales stehen große Probleme. Eine Volksbewegung macht das Land nahezu unregierbar. Ein Gesetz fordert die Nationalisierung der Öl- und Gasvorkommen, die Multis legen sich quer. Und die Wahlversprechen wiegen schwer.

Stimmen zum Wahlausgang

In den letzten Jahren jagten die Bolivianer zwei Präsidenten aus dem Amt. Seit vergangenem Sonntag ist in dem instabilen Anden-Staat ein neuer im Amt - Evo Morales, ein Indianer und Kokabauer. Ob mit ihm Ruhe einkehren wird, ist allerdings fraglich.

Überzeugender Wahlsieg

"Es bricht eine neue Geschichte für Bolivien an, in der wir Gleichheit und Frieden mit sozialer Gerechtigkeit anstreben werden", rief der sichtlich bewegte Morales am Abend seines klaren Wahlsieges Tausenden seiner Anhänger in seinem Heimatort Cochabamba in den Anden zu. Der linksgerichtete Bauernführer erreichte mit 54,1 Prozent der Stimmen sogar die absolute Mehrheit. Sein konservativer Gegenkandidat Jorge Quiroga kam auf 29,6 Prozent, der Zementmilliardär Samuel Doria Medina nur auf 8,2 Prozent der Stimmen.

"Das Volk fordert die Wende, und die Wende bedeutet das Ende des Kolonialstaats, des neoliberalen Modells und einer Verbesserung der Lebenssituation durch verstaatlichte Gasvorkommen", kündigte Morales an: "Ich werde umgehend mit dem Kampf für unsere Naturschätze beginnen und hoffe, dass mein Wahlsieg beispielgebend für den gesamten Kontinent sein wird".

Seine Wahlversprechen

Evo Morales, dem die offizielle Biografie Beschäftigungen als Maurer, Bäcker, Fußballtrainer und Trompeter der "Banda Imperiale" in seiner Heimatregion Oruro zuschreibt, will den Anbau von Kokapflanzen im Land legalisieren und die im Jahr 1996 privatisierten reichen Erdgasvorkommen verstaatlichen. Die USA hat er zur Schließung ihrer Militärbasen in Lateinamerika und dem Abzug aus dem Irak aufgerufen.

Seine populistischen Wahlversprechen werden aber in dem von Aufständen geprägten und gespaltenen Land nicht so leicht zu realisieren sein. Denn mit den rechten Parteien muss er Kompromisse eingehen, und links von ihm wird ihn die radikalisierte Bewegung Pachakuti bald an seine Wahlversprechen erinnern, mit dem Neoliberalismus Schluss zu machen.

Auch die USA werden alle Hebel in Bewegung setzen, um die Legalisierung des Koka-Anbaus zu verhindern. Dabei können sie etwa ihre Entwicklungshilfe stornieren oder das Handelsabkommen nicht verlängern, denn sie sind praktisch einziger Abnehmer bolivianischer Produkte - und die Gasleitungen gehören bislang den Firmen Enron und Shell. Würden sie verstaatlicht, müsste La Paz Schadenersatz und Strafen von mindestens 400 Millionen Dollar zahlen. Die Gasleitungen sind aber Schätzungen zufolge nur 60 Millionen Dollar wert und es wäre billiger, sie zu kaufen, als sie zu enteignen.

Die Pachakuti-Bewegung

Ein vehementer Kritiker des neuen Präsidenten ist Felipe Quispe, der Anführer der radikalen Indianer-Bewegung Pachakuti. Er hält Morales für einen Verräter und freut sich schon auf seinen Sturz: "Ob Evo Morales oder Tuto Quiroga - nach drei oder vier Monaten fallen sie. Denn beide vertreten die multinationalen Konzerne", meint er kämpferisch: "Wir fordern nicht ein Paar Zentimeter nutzbaren Humus für unsere Landwirtschaft. Wir wollen Territorium, samt der Bodenschätze und samt des über ihm liegenden Luftraums. Wir kämpfen für ein System, das auf der Gemeinschaft beruht - ein System, das wir früher hatten, als es keine Armen und Reichen gab und keine Unternehmer, die uns ausbeuteten".

Felipe Quispe teilt die Gesellschaft in zwei Gruppen ein: Indianer und Nicht-Indianer. In die letzte Kategorie fallen die Mestizen, jene Mehrheit in Bolivien, die weiße wie indianische Vorfahren hat: "Sie sind hybrid und erfüllen mich mit Ekel", soll er einmal gesagt haben.

Die städtische Mittelschicht

"In unserem Land steht nicht mehr die Frage der Klassenzugehörigkeit im Vordergrund, sondern die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, verbrämt mit Nationalismus", meint der aus der städtischen Mittelschicht stammende Architekt und Städteplaner Carlos Urquizo, der sich eigentlich über den Wahlsieg des Indios Morales freut. Doch dessen Vizepräsident heißt Alvaro Garcia Linera, ein ehemaliger Guerillero und so genannter "Indigenista", also jemand, der die Sache der Indianer zu seiner eigenen macht, während ein Indianista ein Indio ist, der versucht, das vor 500 Jahren verlorene Paradies wieder zu erlangen: "Man nimmt nicht zur Kenntnis, dass die Mehrheit der Bevölkerung aus Mestizen besteht. Zwei Dritttel leben in Städten, wo sich die Kulturen mischen", betont er.

Urquizo rechnet jedenfalls mit einer weiteren Eskalierung in seiner Heimat und meint, dass der Wahlsieg von Morales den Fundamentalisten Auftrieb geben wird: "Sie werden ihm bald die Rechnung präsentieren. Auch die Lehrer-Gewerkschaft wird radikale Forderungen stellen", prophezeit er.

Die Angst der Reichen

"Evo Morales sollte seinen Absatzmarkt pflegen, statt von Enteignung zu träumen", rät Ramiro Guevara, Rechtsanwalt der in Bolivien operierenden Erdölfirmen. Er will mit dem neuen Präsidenten einen Kompromiss aushandeln. Sollte die Regierung auf die Enteignung verzichten, könnte er sich ein gemischtes System vorstellen, das die Investition der Firmen mit der Übertragung einer bestimmten Fördermenge verrechnet.

Ramiro Guevara zählt zu den Reichen, die sich fürchten, eines Tages von den Indio-Massen umzingelt und massakriert zu werden: "Das Problem Boliviens ist nicht die Rasse, sondern die ideologische Polarisierung. Ich gebe zu, dass die Elite dieses Landes versagt hat. Die jungen Leute sind in der Demokratie groß geworden, und man hat ihnen gesagt, dass sie die gleichen Rechte besitzen. Aber in der Realität besitzen die Indios weniger Rechte. Deshalb fordern sie zurecht ihre Rechte ein. Unser großes Problem ist aber: Wie schaffen wir es, damit die Rechte aller Bolivianer den gleichen Wert haben?" Der Rechtsanwalt befürchtet jedenfalls das Schlimmste, wie die meisten Reichen, die mit dem Auseinanderbrechen des Staates - der Balkanisierung - und sogar mit Massakern rechnen.

Aufstände vorprogrammiert

In einem sind sich alle einig: Es wird neue Aufstände geben. Wird etwa Bolivien in zwei Staaten zerfallen - einen indianisch geprägten Staat im andinen Hochland und einen Staat im tropischen Osten mit den gasreichen Departments Santa Cruz und Tarija? Dort sind schon lange Separatisten am Werk, die sich von den bitterarmen und rebellischen Indios abtrennen wollen. Möglich wäre auch, dass sie einfach aufhören, die Abgaben nach La Paz abzuführen, die sie von den Erdölunternehmen erhalten. Was dann passiert, kann niemand voraussagen.

Eines steht jedenfalls fest: Instabilität wird wohl Normalität in Bolivien bleiben. Das zeigt schon die Geschichte des Anden-Staates: Seit dem Jahr der Unabhängigkeit 1825 gab es nicht weniger als 83 Präsidenten und 200 Staatsstreiche ...

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Wikipedia - Bolivien