Erzählungen von Guy Helminger
Etwas fehlt immer
In seinen Erzählungen pirscht sich Guy Helminger an die Menschen heran und lässt sie nicht mehr aus den Augen. In ein Szenario des kleinbürgerlichen Grauens, aus dem es kein Entkommen gibt, schleicht sich aber auch immer wieder ein Grinsen.
8. April 2017, 21:58
Wenn man Guy Helminger eines Verbrechens bezichtigen wollte, dann wäre das Naheliegendste vermutlich Stalking. Ja, Guy Helminger ist so was wie ein Stalker. In seinen Erzählungen, gesammelt unter dem Titel "Etwas fehlt immer", pirscht er sich an die Menschen heran und lässt sie nicht mehr aus den Augen. Er sitzt auf dem Dach irgendeines Hauses irgendeiner Stadt mit seinem Teleobjektiv, stellt eine Person nach der anderen scharf und schwenkt weiter zur nächsten. Was wir sehen, möchten wir nicht wirklich sehen.
Es ist ein Stadtplan der Alltäglichkeiten, ein Raster der menschlichen Umgangsformen. Aber immer wieder wird an diesem Raster gezupft. Zaghaft, aber unaufhaltsam werden die Grenzen übertreten. Etwas fehlt anscheinend immer, im Leben eines jeden Einzelnen. Etwas muss sublimiert, ersetzt, erkauft, erkämpft, erwartet werden.
Dinge geschehen
Auf dieser unermüdlichen Suche geschehen Dinge, kleine und größere Dinge. Zum Beispiel, dass jemand beim Radfahren den Passanten immer auf den Hinterkopf schlägt. Dass jemand gerne Menschen verfolgt und danach ihre Reaktionen notiert. Oder dass jemand den Hund der Nachbarin mit nach Hause nimmt, quält und verdursten lässt und das alles auf Kassette aufnimmt.
Es schleicht sich der Horror ein. Vor allem dann, wenn man erkennt, dass alle Geschichten miteinander verbunden sind. Wie bei Tschechow, der sagte: "Wenn im ersten Akt eine Pistole an der Wand hängt, muss sie bis zum dritten Akt abgefeuert worden sein", wird man als Leser misstrauisch, wenn eine orange Bluse auftaucht, ein verlorenes Handy, oder Augen wie Glasmurmeln. Helmingers Pistolen werden abgefeuert, allesamt.
Das Licht und die Dunkelheit
Das Licht, das auf all diese Orte fällt, zeichnet sich durch eine Besonderheit aus: Es ist materiell, fast greifbar. Zum Beispiel "hing es in dicken Trauben zwischen den Ästen", oder "es schwamm zwischen den Häusern, schwappte gegen die parkenden Wagen". Guy Helminger gibt dem hellen Nichts einen Körper. Das Licht als Hauptfigur hat eine zusätzliche Funktion: Es ist ein Indikator für das Böse. Wo sich das Licht abwendet und die Dunkelheit hereinbricht, dort herrscht Anarchie.
In dieses Szenario des kleinbürgerlichen Grauens, aus dem es kein Entkommen gibt, schleicht sich aber auch immer wieder ein Grinsen. Helminger ist nicht der Stephen King der Vorstadt, sondern ein schelmischer Beobachter, ein zynischer Erzähler, wenn er einen um den Gruselfinger wickelt.
Buch-Tipp
Guy Helminger, "Etwas fehlt immer", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518417088