Indiens boomende Kultur
Gastland der Frankfurter Buchmesse
Bei der Frankfurter Buchmesse will sich Indien mit rund 40 Autoren - darunter international bekannte wie Vikram Seth oder Amit Chaudhuri - als aufstrebende Industriemacht mit einer ungeheuren literarischen Vielfalt darstellen.
8. April 2017, 21:58
Genau 20 Jahre ist es her, seit das Land Buddhas und Gandhis, Tagores und Rushdies zuletzt Buchmesse-Gast war. Und nichts ist mehr wie damals, weder in Indien noch in Deutschland. 1986 ahnte noch kein Deutscher etwas von Mauerfall und Wiedervereinigung, und kein Inder konnte die Liberalisierung der Wirtschaft oder den Softwareboom vorhersehen.
Die Ursache für den Wandel war in beiden Ländern die gleiche: der Zerfall der Sowjetunion. Indien war seit seiner Unabhängigkeit von den Briten blockfrei geblieben, hatte seine Märkte aber abgeschottet. Damit ist seit 15 Jahren Schluss. Westliche Autos, westliche Musik, westlich beeinflusste TV-Serien und Nachrichtenkanäle finden begeisterte Konsumenten.
Viele verschiedene Sprachen
23 indische Sprachen sowie Englisch sind Amtssprachen in Indien, hinzu kommen zahlreiche weitere regionale Sprachen und Dialekte. Die indoarischen Sprachen im Norden sind so verschieden voneinander wie die europäischen Sprachen und haben zum Teil sehr unterschiedliche Schriften. Die drawidischen Sprachen im Süden gehören sogar zu einer ganz anderen Sprachfamilie.
Die Sprachgrenzen, aber auch soziale und kulturelle Unterschiede sowie das Analphabetentum bewirken, dass im Westen bekannte indische Autoren in ihrer Heimat zum Teil nur von einem kleinen Prozentsatz der Bevölkerung gelesen werden. Zugleich hat Indien eine große Tradition mündlicher Erzählkunst. Auch wer nicht lesen kann, kennt die Volksepen Mahabharata und Ramayana, die von Kathakali-Tänzern im Süden oder Ramlila-Theatergruppen im Norden in jedes Dorf gebracht werden und seit fast 20 Jahren auch als TV-Serien zu sehen sind.
Exotische Dichtkunst
Indien, das war für viele deutschsprachige Leser einmal die Heimat Siddharthas, dessen Leben einst Hermann Hesse mit so viel Wissen über indische Philosophie und Religion beschrieb. Es war das Land Rabindranath Tagores, der für seine faszinierend fremde Dichtkunst 1913 den Literaturnobelpreis erhielt. Es war auch das Geburtsland von Salman Rushdie, der 1981 mit "Mitternachtskinder" für Furore sorgte und die vielfach verzweigte, ins Fantastische gehende, zugleich anrührende und humorvolle indische Erzählkunst bekannt machte.
Am grundsätzlichen Image Indiens änderte sich lange Zeit wenig. Exotische Baudenkmäler, farbenfrohe Saris, unfassbare Armut, das schwer verständliche Kastensystem prägten die Wahrnehmung. Mittlerweile gilt Indien als kommende Wirtschaftsmacht neben China, als Atommacht mit dem Segen der USA, als gern gesehenes Gastland beim Weltwirtschaftsforum in Davos oder bei der Hannover Messe. Es hat seine Märkte und seine Medien geöffnet. Die Börse in Bombay boomt.
All das spiegelt sich auch in der aktuellen Literatur. Nicht nur im Ausland lebende indische Autoren wie Rushdie, Rohinton Mistry oder Shashi Tharoor kommen in die Bestsellerlisten, auch Autoren, die in Indien leben, widmen sich solchen Themen in fiktionalen wie nicht-fiktionalen Texten.
Kritik am Wandel
Arundhati Roy, die vor einem Jahrzehnt mit dem "Gott der kleinen Dinge" auf einen Schlag weltbekannt wurde, setzt sich in Essays und Interviews kritisch mit dem Wandel auseinander. Die Zahl der Armen wachse, warnt sie, und von der überlieferten Kultur bleibe am Ende nur die Stewardess, die die Hände vor der Brust zum indischen Gruß zusammenlege.
Trotz des Erfolges einiger Literatur-Stars entstehen die meisten Bücher in Indien auch heute noch nach Feierabend: "Die Zahl derer, die hauptberuflich schreiben, muss sehr, sehr gering sein", sagt Upamanyu Chatterjee, der gerade seinen vierten Roman vorgelegt hat- und seinen Lebensunterhalt in der Sozialbehörde in Bombay verdient.
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Sudhir Kakar im Porträt
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Hör-Tipps
Tonspuren, "Einen Mord hast du frei ...", Suketu Mehta und die Unterwelt Bombays, Freitag, 29. September 2006, 22:15 Uhr
Radiokolleg, Shakti, schöpferische weibliche Kraft, Montag, 2. Oktober 2006, bis Donnerstag, 5. Oktober 2006, 9:45 Uhr
Radiogeschichten, "Der Bisara von Pooree", Erzählugn von Rudyard Kipling, Montag, 2. Oktober 2006, 11:40 Uhr
Radiogeschichten, "Der Maulbeerbaum", Erzählung von Khushwant Singh, Dienstag, 3. Oktober 2006, 11:40 Uhr
Radiogeschichten, "Martand", Erzählung von Nayantara Sahgal, Mittwoch, 3. Oktober 2006, 11:40 Uhr
Veranstaltungs-Tipp
Frankfurter Buchmesse, Mittwoch, 4. Oktober bis Sonntag, 8. Oktober 2006, Messegelände Frankfurt
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Frankfurter Buchmesse