Zur Person: Hannah Arendt

Ein Appell an individuelle Verantwortung

Die Wissenschaftlerin Hannah Arendt berichtete vom April bis Juni 1961 vom Prozess gegen den "Deportationsspezialisten" Adolf Eichmann. Als ihre Beiträge als Buch erschienen, wurde der Untertitel zum geflügelten Wort: "Die Banalität des Bösen".

Adolf Eichmann zu seiner inneren Einstellung

Die Frage des Jerusalemer Staatsanwalts, ob sich Adolf Eichmann schuldig fühle an der Beteiligung am Mord von Millionen von Juden, beantwortete der Angeklagte im Sommer 1961 mit: "Ich habe die Transporte befehlsgemäß durchführen müssen." Und weiter: "Der kategorische Imperativ war kurz abgetan mit den Worten 'getreu nach dem Gesetz', 'gehorsam', 'selber ein ordentliches Leben führen', 'nicht mit den Gesetzen in Konflikt kommen', diese ... ich möchte einmal sagen, den kategorischen Imperativ für den Hausgebrauch eines kleinen Mannes."

Es waren Sätze wie diese, das unbeholfene Strapazieren von Klischees, mit denen Adolf Eichmann sich in Jerusalem zu rechtfertigen suchte, die Hannah Arendt zu einer ihrer umstrittensten Aussagen geführt hat, zur Formel von der Banalität des Bösen:

In diesen letzten Minuten war es, als zöge Eichmann selbst das Fazit der langen Lektion in Sachen menschlicher Verruchtheit, der wir beigewohnt hatten - das Fazit von der furchtbaren Banalität des Bösen, vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert.

Mehr hat es nicht gebraucht, um das Lebenswerk der Philosophin kurzerhand zu diskreditieren. Diesen Satz, mit dem sie ihre Berichterstattung über den Eichmann-Prozess zusammenfasste, haben ihr viele bis heute nicht verziehen. Den, aus damaliger Sicht, entscheidenden Drahtzieher der Judenvernichtung als banalen Spießbürger und dienstbeflissenen Bürokraten darzustellen, sprengte die Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit dem unfassbarsten aller Verbrechen.

Fatales Missverständnis

Freunde und Kollegen, sowie Überlebende der Shoah wandten sich entsetzt von Hannah Arendt ab. Sie warfen ihr vor, die Katastrophe respektlos zu verharmlosen und das Leid der Juden herabzusetzen. Ein fatales Missverständnis, wie Frank Stern, Film- und Geschichtswissenschafter, rekapituliert: Banalität sage nicht, dass Mord banal sei. Es gehe um die Mentalität und Psyche derjenigen, die sie auszuführen haben.

Arendt habe nicht die Shoah relativiert, so Stern weiter, sondern die Täter ent-dämonisiert, indem sie auf die Sozialisationsbedingungen, Arbeitsbedingungen, die Bürokratisierung und Radikalisierung der Vernichtungspolitik eingegangen sei. Sie habe die Täter als Menschen gezeigt und nicht als Wesen von einem anderen Stern, die über Österreich oder Deutschland hergefallen waren und ihr böses Handwerk verrichteten.

Täter und Opfer

Anfang der 1960er Jahre war die Zeit noch nicht reif, sich vom Bild des monströsen Nazi-Schergen zu verabschieden. Die Erfahrung des Nationalsozialismus hatte zwar eine tiefe Kluft zwischen die Angehörigen der Opfer und Täter gerissen. Doch in einem war man sich dennoch einig: Dass ein derart beispielloses Verbrechen nur von Leuten begangen werden konnte, denen jede Form des Menschlichen, ja jede Fähigkeit des Menschseins, abhanden gekommen war.

Arendt wollte mit dieser Vorstellung vom Naziverbrecher als barbarischem Tier bewusst brechen. Nicht um ihn als harmlosen Pflichterfüller darzustellen, sondern um das eigentlich Monströse hervorzukehren. Die Unbedarftheit und Emotionslosigkeit, die die bürokratische Organisation des Massenmordes möglich gemacht hat.

Für Klaus Dethloff, Professor für Philosophie an der Universität Wien, stellt sich die Frage, was das für ein Mensch sei, der absolut gedankenlos agiere, sich der Konsequenz seiner Handlungen nicht bewusst sei, der nicht fähig sei, sich in die Lage eines anderen hinein zu versetzen. Was sei das anderes als ein Monster? Dethloff meint, Arendt habe Eichmann entmythologisiert, indem sie ein Monster eigener Art aus ihm gemacht habe.

Flucht aus der Verantwortung

Doch fassungsloses Erstarren schien Arendt eine ebenso unangemessene Reaktion auf die Erkenntnisse des Jerusalemprozesses, wie die Flucht aus der Verantwortung, die Eichmann dort an den Tag gelegt hat. Für sie gab es nur einen Weg, die größten aller Katastrophen zu bewältigen: Die akribische Analyse und Aufklärung der konkreten Umstände, unter denen jedweder Widerstandsgeist und alles moralische Urteilsvermögen zusammenbrechen konnte.

Doch das setzte ein hohes Maß an Selbstkritik bei Tätern wie Opfern und Mitwissern voraus. Und zu der, so Frank Stern, waren Mitte der 1960er nur wenige bereit: "Wenn man sich der These der Banalität des Bösen stellte, musste man sich der eigenen Gesellschaft und der eigenen Verantwortung in der jeweiligen Gesellschaft stellen. Und man musste vielleicht anders an die Analyse der nationalsozialistischen Gesellschaft und der Vernichtungspolitik herangehen. Was ja in den nachfolgenden Jahren auch erfolgte."

Für Stern hatte diese Kontroverse positive Folgen: Eine jüngere Generation von Sozialwissenschaftlern, Historikern, Kulturwissenschaftlern habe sich daran gemacht, neue Fragen zu stellen und das Phänomen des Nationalsozialismus zu untersuchen.

Arendts Buch sei ein Appell an individuelle Verantwortung und Humanismus, so Stern. Jeder Mensch in einem Staatsapparat müsse sich die Frage stellen, ob er demokratische Normen verletze, wenn er sich einfach Befehlen von oben füge. Die Fragen, die Arendt aufwerfe, so Stern weiter, beziehen sich nicht nur auf die absolute Grenzsituation des Massenmordes, sondern auch auf das demokratische Selbstverständnis.

Konsequenzen der Lektion

Aber hatte diese Lektion der Geschichte auch Konsequenzen? Und wenn ja für wen? Die Völkermorde im ehemaligen Jugoslawien und Ruanda, aber auch die Folterpraktiken in Abu Ghraib scheinen die Aktualität und Relevanz von Arendts Formel zu bestätigen. Aber für die Mobilisierung von Widerstand und Gegenmaßnahmen, so der Politikwissenschafter und Journalist Eric Frey, eigne sich Arendts Analyse kaum.

Im Gegenteil: Interventionen gegen politische Verbrechen brauchen klar umrissene Feindbilder, dramatische Metaphern, für die die dämonische Figur Adolf Hitler weitaus geeigneter erscheint. Zu diesem Schluss kommt Eric Frey in seinem jüngsten Buch zum Umgang mit dem Bösen in der Weltpolitik. Er sieht darin allerdings nicht nur ein gefährliches Missverständnis, sondern ein krankhaftes Denkmuster: ein Hitler-Syndrom.

Service

Kurt Sontheimer, "Hannah Arendt - Der Weg einer großen Denkerin", Piper Verlag, ISBN 3492043828

Hannah Arendt, "Der Liebesbegriff bei Augustin. Versuch einer philosophischen Interpretation",
Philo Verlag, ISBN 3825703436

Hannah Arendt, "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", Piper, ISBN 3492210325

Hannah Arendt, "Vita activa oder Vom tätigen Leben", Piper, ISBN 3492236235

Hannah Arendt, "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen", Piper, ISBN 3492203086

Hannah Arendt, "Macht und Gewalt", Piper, ISBN 349220001X

Wikipedia - Hannah Arendt
TU Dresden - Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung
Uni Oldenburg - Hannah-Arendt-Zentrum
newschool.edu - Hannah Arendt Center
Hannah Arendt Preis für politisches Denken e.V.
Hannah Arendt.Net