Ruinöses Versagen oder Unglücksfall?
Der Fall Wague
Der Fall des erstickten Mauretaniers Seibane Wague offenbart strukturelle Schwachstellen im System: Ausbildungsmängel, Trägheit des Justizministeriums und ein Polizeiapparat, der mauert und wenig Bereitschaft zu Konsequenzen zeigt.
8. April 2017, 21:58
Reaktionen nach dem umstrittenen Urteil
Die Urteile im Prozess um den ums Leben gekommenen 33-jährigen Mauretanier Seibane Wague sind gesprochen. Das milde Ausmaß stößt auf wenig Verständnis. Während Amnesty International von einem ruinösen Versagen der Polizei spricht und einen zweiten unabhängigen Prozess fordert, sieht der Wiener Polizeichef Peter Stiedl keinen Anlass, trotz offensichtlicher Ausbildungsmängel seitens der Polizei dementsprechende Maßnahmen zu ergreifen.
Der Tatbestand
Am 15. Juli 2003 wird die Polizei um 00:40 Uhr vom Leiter des so genannten Afrikadorfes in den Wiener Stadtpark gerufen, weil der dort beschäftigte Seibane Wague nach einem heftigen Streit nicht zu beruhigen ist. Beim Eintreffen der Beamten und eines Rettungswagens - die Einsatzkräfte gehen von einer "tobenden Psychose" aus - scheint sich die Situation zunächst zu entschärfen.
Als Wague jedoch unvermutet aus dem Rettungswagen springt und davon laufen will, wird er von sechs Beamten und drei Sanitätern minutenlang mit bereits gefesselten Händen in Bauchlage am Boden fixiert. Der anwesende Notarzt schreitet nicht ein. Ein Herz-Kreislauf-Versagen ist die Folge. Das Spital, in das Wague eingeliefert wird, kann nur mehr den Tod feststellen.
Die nachfolgenden Ereignisse
Drei Tage nach dem Todesfall suspendiert die Wiener Rettung die beteiligten Sanitäter und den Notarzt. Noch am Tag von Wagues Tod erstatten die Beamten Anzeige gegen den Toten wegen Sachbeschädigung und Körperverletzung. Im Protokoll ist Folgendes zu lesen:
Dem Afrikaner wurden Fußfesseln angelegt. Die Sanitäter schnitten Wague im Gesäßbereich die Hose auf, lockerten seinen Gürtel, und der Arzt injizierte im Gesäßbereich ein Beruhigungsmittel. Nach etwa einer Minute ließ die Gegenwehr Wagues nach. Gleichzeitig wurde im Zuge der Fixierungsmaßnahmen durch die Polizisten stetig die Atmung und der Pulsschlag am Hals überwacht. Über Anweisung des Arztes wurde der Afrikaner auf die Transportliege gelegt. Wague verlor erst im Rettungsfahrzeug das Bewusstsein. Im Zuge der Amtshandlung wurde Inspektor O. am linken Oberarm verletzt. Diesbezüglich sowie bezüglich der Sachbeschädigung am PKW wird separat Anzeige erstattet.
Fazit der damaligen Geschehnisse seitens der Polizei: Keine Suspendierung, keine Disziplinaranzeige. Die beteiligten Polizisten versahen weiterhin Dienst.
Ermittlungen und Prozess
Als nach jenen Vorfällen ein Amateur-Video auftauchte, das die Aussagen der Beteiligten anzweifelte, schaltete sich die Staatsanwaltschaft mit Vorerhebungen wegen fahrlässiger Tötung gegen Unbekannt ein, in deren Folge es zum Prozess gegen zehn Personen kam.
Vor ein paar Tagen - zwei Jahre und vier Monate nach dem Tod des Afrikaners - wurden die Urteile in erster Instanz gesprochen: Der Notarzt und jener Polizist, der auf den Brustkorb Wagues Druck ausübte, sind zu je sieben Monaten bedingter Haft verurteilt, die anderen Angeklagten - drei Sanitäter und fünf weitere Polizisten - freigesprochen worden.
Reaktionen auf die Urteile
Während der Wiener Polizeipräsident Peter Stiedl auch nach dem Prozess keinen Handlungsbedarf für etwaige Suspendierungen sieht, ortet Heinz Patzelt, Generalsekretär von Amnesty International in Österreich, ein "ruinöses, strukturelles Versagen der Polizei" und verlangt strafrechtliche Folgen für die Verantwortlichen. Schon während des Prozesses wurde laut Patzelt ein großes Defizit in der Polizeiausbildung sichtbar. Denn trotz diverser Erlässe und Informationsbriefe gaben damals die beschuldigten Beamten an, nichts von den Gefahren der Fixierung am Boden gehört und gelesen zu haben. Auch die Trainer dieser Beamten sagten aus, sie hätten diese Themen nicht gelehrt, weil sie die Ausbildungsanweisungen zum so genannten "lagebedingten Erstickungstod" nicht erhalten hätten.
Auch der Menschenrechtsbeirat bewertet das Handeln der Polizeibeamten im Fall Wague negativ. Eine der Empfehlungen betont, dass die Polizisten verstärkt Deeskalationstrainings erhalten sollten. Auch der Themenbereich Rassismus ist analysiert worden. Eine Studie der Sprachwissenschaftlerin Angelika Brechelmacher leitet demnach Empfehlungen im Sinne von Ausbildungsmodulen ab, um die Polizisten verstärkt auf Themen wie Rassismus im Sprachgebrauch zu sensibilisieren.
Zweite Runde vor dem OLG
Als Begründung für die nun vorliegenden Urteile wird ebenfalls mangelnde Ausbildung der Polizeibeamten angeführt. Der Tatbestand lautet "fahrlässige Tötung". Dafür ist ein maximaler Strafrahmen von einem Jahr vorgesehen. Da es sich bei den Beschuldigten um Unbescholtene handelt, ist das Urteil in erster Instanz als "hart" anzusehen.
Für Menschenrechtsorganisationen ist es dennoch unbefriedigend. Sie fordern die Einrichtung einer Menschenrechtsagentur, die sich der strukturellen Probleme des Polizei- und Justizapparates annimmt. Außerdem sollen Ermittlungen bei Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei in Hinkunft von einer unabhängigen Instanz geführt werden, nicht mehr vom so genannten Büro für besondere Ermittlungen, das Teil der Polizei ist.
Auch Staatsanwältin Sabine Rudas-Tschinkel ist mit dem Urteil nicht zufrieden. Sie ist zumindest der Ansicht, "dass die Beamten, die den Oberkörper fixiert haben, mit Sicherheit zu verurteilen sind". Sie hat nach den acht Freisprüchen bereits Rechtsmittel angemeldet. Die beiden Verurteilten meldeten ebenso unmittelbar nach der Urteilsverkündung Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung an. Das Wiener Oberlandesgericht wird sich also demnächst mit den Anklagen gegen alle in die tödlich ausgegangene Amtshandlung verwickelten Personen zu befassen haben.
Teresa Arrieta wurde vor wenigen Tagen mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Medienpreis - dem mit 15.000 Euro höchstdotierten Journalistinnen-Preis in Österreich - ausgezeichnet.
Mehr zum Fall Wague in ORF.at
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.