Dokumentation eines historischen Umbruchs

Das Klavier im Nebel

Die Verflechtung durch Reminiszenzen und wiederkehrende Bilder verknüpft die mäandrierenden Binnengeschichten und die farbigen Details von Eginald Schlattners dritten Roman zu einem großen Ganzen: zur Dokumentation eines historischen Umbruchs.

Ein Jugendlicher fällt aus all seinen Lebensbezügen: aus dem reichen großbürgerlichen Elternhaus delogiert, das soziale Umfeld in Auflösung, seine Erziehung wertlos. Der Vater sitzt im Gefängnis, die Mutter ist zum Meer gefahren. An höhere Bildung ist nicht zu denken, in der Porzellanfabrik arbeiten zu können wäre schon viel, denn studieren dürfen nur Proletarierkinder, und Clemens ist der Sohn des Fabrikanten Otto Rescher, der in Kronstadt, das jetzt Stalinstadt heißt, eingesperrt wurde, weil er bei der Verstaatlichung seines Betriebes Widerstand geleistet hatte. Siebenbürgen in den Jahren 1948 bis 51.

Ein neues Leben fernab der Stadt

Sehr vieles in Eginald Schlattners neuen Roman ist autobiografisch, aber er ist mit dem Stoff seines Lebens sehr raffiniert umgegangen, hat die eigenen Erfahrungen auf mehrere Romanfiguren verteilt und den Schauplatz verlegt: nach Schäßburg, eine der schönsten Verkörperungen der alten urbanen Kultur Siebenbürgens.

Nach der brutalen Enteignung des Elternhauses hat Clemens die vertraute Stadt verlassen und sich "zu den Feldern seiner Vorfahren geflüchtet". In der Distanz zu seiner Herkunft und auf sich allein gestellt fasst er den Vorsatz: "Ich beginne ein neues Leben." Einige Wochen lebt er in der freien Natur, von einem Hirten lernt er die Überlebensstrategien. Der allgegenwärtigen Partei gefällt das nicht. Am Zurück in die Stadt führt kein Weg vorbei, er muss in die Ziegelfabrik.

Ein Weltpanorama

Wie sehr er der Welt der Siebenbürger Sachsen verhaftet ist, merkt Clemens vor allem in der großen Liebe zu dem rumänischen Mädchen Rodica. Mit ihr kann er alles teilen: Gefühle, Verstand, Körper, auch die Liebe zur Musik. Die beiden überstehen viele Abenteuer, aber als sie ans Ziel kommen, weiß Rodica, dass ihr Platz bei ihrer Familie ist - und Clemens, dass er dort nicht hingehört. Er lässt Rodica ziehen, aber er kann sich das später nie verzeihen.

Die Dynamik dieser individuellen Geschichte von Clemens ist es, die den Roman vorwärts treibt. Aber das eigentlich Faszinierende ist das Weltpanorama, das er aufspannt. Lektüre und Lieder, Gerüche und Gerüchte lassen das Siebenbürgen und Rumänien der Nachkriegsjahre erstehen, kleinste Details aus den Lebensformen eines Hirten, aus den Ritualen und Lebensformen der Zigeuner (niemand hätte sie damals anders genannt) erzeugen keine harmlose Nostalgie, sondern machen das Buch auch zu einem Dokument.

Bei all seinem dokumentarischen Charakter ist das Buch mit dem kitschverdächtigen Titel aber vor allem ein Roman mit wuchernden Binnengeschichten und Dutzenden individuellen Charakteren. Für manchen mag es eine Lesehürde sein, aber es gehört zur Welt dieses Romans: rumänische und ungarische Sprachfetzen, ja ganze Gedichte durchziehen die Gespräche, gelegentlich wird auch der sächsische Dialekt verschriftlicht. Schlattners Sprache ist zu vielem fähig, vor allem auch zu knappen, individuellen Naturbeschreibungen wie dieser: "Eine verwegene Helligkeit lag in der Luft."

Gelebtes Leben wird Literatur

Eine Reise ist der rote Erzählfaden in Schlattners großem Panorama. Sie führt Clemens von Schäßburg in das Dorf Gnadenflor im Banat. Dort wird er Zeuge, wie ein ganzes Dorf über Nacht brutal evakuiert wird, weil es zu nahe an der Grenze mit Titos Jugoslawien liegt; Tito hatte mit Stalin gebrochen. In diesem düsteren Nebel endet das Buch und bleibt ein Klavier zurück. Funktionslos.

Eginald Schlattners dritter Roman ist das Bindeglied zwischen seinem Debüt "Der geköpfte Hahn", wo die noch intakte Vorkriegswelt beschrieben wird, und dem Roman "Die roten Handschuhe", in den die Erfahrungen der Verhaftung und der Verhöre in den 50er Jahren eingeflossen sind. "Das Klavier im Nebel" zeigt ihn am Gipfel seiner Möglichkeiten, gelebtes Leben zu Literatur zu machen.

Buch-Tipp
Eginald Schlattner, "Das Klavier im Nebel", Zsolnay Verlag, ISBN 3552053522