Der Hirnforscher Wolf Singer
Das Gehirn hat keine Gefühle
Embodyment, Society of Brains - Schlagworte aus der neueren Hirnforschung. Es geht nicht mehr nur darum, welche Hirnregionen wann aktiv sind. Was unser Gehirn leistet, hat viel mit der Gesellschaft zu tun, in der wir leben.
8. April 2017, 21:58
Michael Kerbler: Wenn ich den Gehirnforscher Wolf Singer frage "Wo sitzt Ihr Ich?"
Wolf Singer: In meinem Kopf. Aber mein Ich wohnt natürlich in einem Körper. Ich nehme mich ja auch wahr als Person. Man spricht heutzutage von "Embodyment", wenn man das meint. Ich kenne meine Körpergröße, ich weiß wie beweglich ich bin, ich weiß, wo es mir weh tut - alles das ist Teil meines Ichs. Nur die Konstitution des Ichs, die Fähigkeit darüber zu berichten, die Fähigkeit sich dessen bewusst zu sein, ist natürlich eine Leistung des zentralen Nervensystems, und das befindet sich nun mal im Kopf. Das holt sich sehr viele Informationen aus der Umgebung. Mein Ich konstitutioniert sich ja auch nur in der Spiegelung anderer Personen, die mich wahrnehmen und mir mein Sein zurückspiegeln, was ich wiederum wahrnehme. Auf diese Weise entwickle ich ein Ich-Konzept.
Wenn ich nicht in dieser Gesellschaft aufgewachsen wäre, sondern in einer anderen society of brains, wenn also nicht die Einbettung in dieses reiche kulturelle Umfeld des sich gegenseitig Reflektierens wäre, dann wäre mein Ich-Konzept ein völlig anderes. Aber geprägt in dieser abendländischen Kultur, mit meinem Ich ausgebildet - auch wenn ich jetzt alleine bin -, wenn ich mir dieses Ich-Bewusstsein erzeuge, dann erzeuge ich es mir in meinem Kopf.
Wo sitzt bei Wolf Singer die Seele?
Das, was wir als Seele bezeichnen, also meine Gesamtheit, die nicht fassbaren Emotionen, mein Wissen über mein Sein, diese fast transzendentalen Erfahrungen, all das wird auch in meinem Gehirn erzeugt. Sie liegen nicht außerhalb irgendwo.
Welche Rolle spielt der Bauch?
Der Bauch spielt eine wichtige Rolle in meinem Unterbewusstsein, und zwar bei Entscheidungsprozessen. Oder wenn Konflikte auftreten. Oder wenn die Entscheidungen, die ich bewusst getroffen habe, nicht mit dem zusammenpassen, was meine unterbewussten Entscheidungsprozesse herbeigeführt haben. Wenn ich sage: "Ich habe mich so entschieden, aber ich habe ein blödes Gefühl". Dieses blöde Gefühl kommt daher, weil ich meine Hirnfunktionen ja nicht spüren kann. Ich habe kein Gefühl für mein Gehirn. Aber ich habe natürlich sehr wohl, dank meines Gehirns, ein Gefühl über meinen Herzschlag, über meine Körperbefindlichkeit, über zahllose Sensoren.
Was passiert, wenn solche Konflikte auftreten? Es steigt der Blutdruck, das Herz schlägt schneller, Sie kriegen Schweißausbruch, Ihnen wird übel. Und das zusammen macht dieses ungute Gefühl, da kriegen Sie indirekt über Ihre Körperwahrnehmung zurückgespielt, dass da was nicht stimmt.
Service
Wolf Singer, "Der Beobachter im Gehirn - Essays zur Hirnforschung", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518291718
Wolf Singer, "Ein neues Menschenbild? - Gespräche über Hirnforschung", Suhrkamp Verlag, ISBN 3518291963
Sarah-Jayne Blakemore und Uta Frith, "Wie wir lernen - Was die Hirnforschung darüber weiß", aus dem Englischen von Hella Beister, Deutsche Verlagsanstalt, ISBN 3421059225
Robert Jourdain, "Das wohltemperierte Gehirn - Wie Musik im Kopf entsteht und wirkt", aus dem Englischen von Markus Numberger und Heiko Mühler, Spektrum Akademischer Verlag, ISBN 382741122X
Eric Kandel, "Auf der Suche nach dem Gedächtnis - Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des menschlichen Denkens", Siedler Verlag ISBN 3886808424
Benjamin Libet, "Mind Time - Wie das Gehirn Bewusstsein produziert", aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder, Suhrkamp Verlag, ISBN 3518584278
Detlev B. Linke, "Die Freiheit und das Gehirn – eine neurophilosphische Ethik", C.H. Beck, ISBN 3406528740
Peter F. Weber, "Der domestizierte Affe: Die Evolution des menschlichen Gehirns", Patmos Verlag, ISBN 3530421898
Max-Planck-Instituts für Hirnforschung
5th Forum of European Neuroscience