Klagen eines alternden Mannes

Nicht nur Stifter hat Geburtstag

200 Jahre wäre Adalbert Stifter jetzt also alt. Da er selbst nicht mehr in der Lage ist, seinen Geburtstag zu feiern, tun das andere für ihn. Solange man lebt, muss man selbst feiern - und jedes Jahr daran erinnert werden, wieder ein Jahr älter zu sein.

Ich hab' auch Geburtstag. Zufällig am gleichen Tag wie Adalbert Stifter, was mir die Ehre verschafft, diese Zeilen zu schreiben. Ob es ein Wink des Schicksals ist? Eher nicht. Ich habe mit dem Meister der Beschreibungswut, begnadeten Esser und zuletzt depressiven Selbstmörder kaum etwas gemeinsam: Literarisch bin ich ein Freund des Dramatischen, am kulinarischen Genuss liegt mir wenig, und vom Suizid werde ich, dies zur Beruhigung besorgter Mitmenschen, vorläufig nicht in Versuchung geführt.

Was, dies nur nebenher, alle Astrologie Lügen straft: Objektiv sind Stifter und meine Wenigkeit unter demselben Sternzeichen geboren, die Unterschiede sind aber mindestens groß.

Den wievielten Geburtstag ich heuer habe, verrate ich nicht. Nur so viel: In meinem Alter verbietet es die Höflichkeit, mich danach zu fragen. Feiern wird' ich ihn auch nicht. Soll halt Stifter statt meiner gefeiert werden.

Geburtstage liefern ja an sich wenig Grund zum Feiern. Mit zwei Ausnahmen vielleicht, dem achtzehnten und dem achtzigsten. Mit achtzehn wird man, wenn alles gut gegangen ist, schulisch und behördlich für reif erklärt. Man bekommt einen Führerschein und erwirbt das Recht, in jedem beliebigen Lokal zu jedem beliebigen Zeitpunkt, also auch nächtens, jeden beliebigen Drink zu nehmen.

Kleiner Einschub "off topic": Diese Kombination ist fatal, sie schafft für den Betroffenen einen lebensbedrohlichen Zustand. Deshalb vertrete ich seit langem die Meinung, die beiden Dinge seien zu trennen: Führerschein erst ab 25, wenn die Leute sich ans Trinken gewöhnt haben und wissen, was sie vertragen. Leider kann sich der Gesetzgeber nicht zu dieser lebensrettenden Regelung aufraffen. Und ich bekenne: Mit 18 hatte ich dafür wohl auch keine Einsicht. Was wiederum die apostrophierte "Reife" zweifelhaft erscheinen lässt.

Mit 18 gibt das alles immerhin Grund zum Feiern. Zum 80. Geburtstag kann man dann feiern, dass man überhaupt noch feiern kann, was ja nicht jedem vergönnt ist. Aber alle die Jahrestage dazwischen... Ich sehe nichts, was da zum Frohsinn verleiten könnte. Es ist eher zum Weinen. Mit jedem Geburtstag ist man älter geworden, höchst unerfreulich, und hat sich den Mühen des Alters ein weiteres Jahr genähert, sehr unersprießlich. Mit jedem dieser "Jubeltage" wird man ein wenig schlapper. Hoffnungen gehen dahin und Perspektiven verschwinden. Bald ist man in einem Alter, für das man damals, mit 18, bestenfalls Verachtung übrig hatte: "Trau keinem über 30." Sie wissen, was ich meine.

Mit jedem Geburtstag sind die zwei Stockwerke in die Wohnung, einst als läppisch belächelt, schwieriger geworden. Man könnte glauben, nicht die Zahl der Jahre, sondern die der Stufen habe sich beträchtlich erhöht. Das Gedächtnis funktioniert nicht mehr wie einst, die Sehkraft lässt nach. Im Tennisklub wird man, dies eine echte Beleidigung, von der triumphierenden Jugend in die "Seniorenmannschaft" befördert, und, besonders schlimm: zu Recht.

Zuletzt, was soll man um den heißen Brei herum schweigen, sind sogar manche den Mann definierenden Triebe nicht mehr, was sie einmal waren. Da hilft auch kein Gefasel über "Erfahrung". Zwischen einmal "mit Erfahrung" und fünf Mal ohne liegt mathematisch exakt die Multiplikation mit fünf. Und die Multiplikation ist eine höchst machtvolle Operation.

Weiters, perspektivisch gesehen: Mit jedem Geburtstag ist man dem Siechtum und den nach dem hinterhältigen Arzt Alois Alzheimer benannten Symptomen ein Jahr näher gekommen. Was daran soll eines Fests würdig sein?

Also gut, Schluss mit Klagen, bevor ich den Leser überfordere. Noch bleibt es mir ja erspart, morgens im einst stolz erworbenen Führerschein nachsehen zu müssen, wie mein Name lautet. Aber ich sehe keinen Grund, was an all jenen Beschwernissen zu feiern wäre.

Womit zuletzt noch ein Wort über den Tod angebracht scheint. Psychologen, Soziologen, Theologen und andere Zeitgenossen (die ihren Lebensunterhalt mit Geschwätz verdienen, wie mir scheint) kritisieren ja immer wieder, der westlich-zivilisierte Mensch habe den Tod verdrängt, er habe den Tod mental aus der Welt geschafft, die ganze westliche Gesellschaft habe den Tod tabuisiert. Und dergleichen mehr.

Ich gestehe, mich nervt das. Es trifft auf mich, das kann ich sagen, nicht zu. Ich weiß schon, dass ich sterben werde. Ich habe auch zur Kenntnis genommen, dass, biologisch gesehen, das Sterben eine Voraussetzung des Lebens ist. Meint: Würden wir nicht sterben, wären wir gar nicht geboren worden. Biologisch macht das Geboren-Werden ja nur dann Sinn, wenn die Vorherigen sterben, und in der Folge natürlich auch wir selbst. So freundete ich mich mit dem tröstlichen Gedanken an, dass "das Leben ein Prozess ist, der durch uns hindurch geht", wie ein kluger Mann sagte.

Ich habe sogar Adalbert Stifters Erzählung über die Wiener Katakomben gelesen, wo es von Toten nur so wimmelt. Dies auch als Lesetipp, wenn wir schon bei Stifter sind: "Ein Gang durch die Katakomben". Der Schriftsteller betrachtet darin den oft postulierten technischen, gesellschaftlichen, zivilisatorischen Fortschritt und sein Verhältnis zu den immer gleichen Grundbedingungen des Menschseins. Dies ist ja das überaus Seltsame, das Unbegreifliche an diesen Grundbedingungen. Mit Blaise Pascals Worten: "Jeder Mensch ist ein ganzes Universum." Trotzdem stirbt er.

Ich habe den Tod also nicht verdrängt. Ich fürchte mich auch nicht übermäßig davor, indes, ich hoffe, man verzeiht mir das: Lustig finde ich ihn deshalb noch lange nicht. Und somit beschloss ich bereits vor Jahren: Ein Geburtstag, der neben allem anderen Mühen unvermeidlich jenes Ende näher bringt, kann kein Festtag sein. Er ist ein Trauertag.

Selbstverständlich danke ich allen, die mir "Alles Gute" zum Geburtstag wünschen und mir "Langes Leben" zuprosten. Ich wünsche ihnen das Gleiche. Und halte mich an einen anderen großen Schriftsteller, den Schotten Irvine Welch, der da sagte: "Der Mensch ist das einzige Tier, das weiß, dass es sterben wird. Im Gegenzug, gleichsam als Ausgleich für diese Grausamkeit, haben wir die Liebe bekommen."

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