Spurensuche, halben Doppelherzens

Element of Berlin

Nach ein paar Gläschen kitzelte sie die Zugtickets aus der Tasche. Berlin. Kreuzberg! Frank Lehmann, "... noch Mal um die Häuser ziehen" an den letzten warmen Tagen in Berlin. Um Jahre zu spät reisen wir in die Metropole der Veränderung.

Willkommen in Berlin, hier ist alles im Umbruch, jede Handbreit eine Baustelle von Berliner Ausmaßen, Kreuzberg ist mehr Tradition als grandios, und wer sich in den Kopf gesetzt hat, ewige Zeiten nach der Lektüre von Sven Regeners "Herr Lehmann" eine Spurensuche zu unternehmen, stößt einigermaßen unvermittelt an eine Grenze im eigenen Wirrwarr, jener zur Halbherzigkeit, denn in Wirklichkeit ist alles viel banaler als in der Literatur, also warum sollte man sich mehr als mit einem verkaterten Auge auf die Suche machen nach Orten, die Frank Lehmann, jenem Protagonisten in Regeners erstem Roman, sein literarisches Äußeres gaben?

Ich habe mich mit P. nach Berlin begeben. Und was liegt für zwei notorische Elements of Crime näher, als sich zu fragen, ob denn die deutsche Bundeshauptstadt nun das Licht wirft, das im Buche steht, den Grind aushält, den sogar die Verfilmung trefflich übersetzt, jenes "Lebensgefühl" beherbergt, das in uns vage aufgerührt wurde vor drei Jahren, als wir das Buch zum ersten Mal lasen? "Brodeln", sagt P., sie vermisse das Brodeln. Wir sind wieder einmal gänzlich verschiedener Meinung. Ich halte das Wort Brodeln für völlig verfehlt, in jeder Hinsicht unsinnig. Warum? Weil ich enttäuscht bin von Berlin. Auch P. ist enttäuscht. Dann sage ich nein. Nein, diese Stadt ist großartig, es ist die erste, in der ich mich vom ersten Augenblick an nicht fremd fühle, sonder beglückt durch die permanente Veränderung, die ich auch in mir vor sich gehen lasse, lassen muss, weil ich nicht anders kann, als dem Fortlauf der Geschehnisse tatenlos, aber mit wohlwollender Anteilnahme beizuwohnen.

"Du würdest hier wohnen wollen?" sagt P. "Ja, sofort", sage ich. Und P. meint: "Fahren wir zur Kastanienallee", dort sei die Alternativszene zu Hause. Ich denke: Was für ein Knäuel an Paradoxien! - Wir sind noch keine zwei Tage hier und haben schon geschluckt, dass es hier keinen Herrn Lehmann mehr gibt. Romantisiertes Kreuzberg, literarisch parfümiertes! Einfall, Ausfall oder Abfall - wie sie alle geheißen haben mögen, die Kneipen in Sven Regeners erstem (großartigem) Buch: Wir sind sicher, dass keines je existiert hat und dass jeder Versuch, sich jenem längst als Klischee erkannten Stadtbild anzunähern, darin enden muss, dass wir selbst uns wie Fassaden fühlen, wie Wasser, das nicht abrinnt.

So hilft auch die am ersten Tag erstandene Zeitschrift nicht. Dort ist ein Artikel zu lesen über Sven Regeners Band Element of Crime und über die Schauplätze, an denen es geschah - was auch immer: der Rock, das Roll und das N. N wie "Neue Vahr Süd", das zweite Regener-Buch, ein Roman, der schon von vornherein die Arme verschränkt und bedeutet: Hau ab, Voyeur! - Wir wollen dich nicht herausfordern, dickes grünes Buch, wir mochten deinen Vorgänger sowieso viel lieber! ... Wir fragen M., der seit sechs Jahren in Berlin lebt, wir fragen N., die in Berlin gelebt hat: "Element-of-Crime-Atmosphäre? Herr-Lehmann-Atmosphäre?" Beide: "Element of Crime? Wir dachten, das sei eine Band?! Und Herr Lehmann? Kennichnich."