Eine Disziplin mit Konjunktur

Soziologie heute

Die Wissenschaft von der Gesellschaft hat ihren Ruf, eine sterile Disziplin zu sein, überwunden. In Zeiten der Globalisierung und des damit verbundenen Sozialabbaus erinnert sich die Soziologie wieder ihrer kritischen Funktion.

Die aktuelle, äußerst dramatische soziale Situation bedarf einer adäquaten soziologischen Annäherung. Gefragt ist eine neue Ernsthaftigkeit, die sich auf die Schattenseiten der globalen Gesellschaft einläßt. Die Rede ist von einer drohenden Exklusionsgefahr, die sich immer stärker ausweitet.

Achtung, Ausschließung!
Unter Exklusion versteht der in Kassel lehrende Soziologe Heinz Bude die Vorstellung, dass ein wachsender Teil der Gesellschaft damit konfrontiert wird, als Arbeitslose oder als Sozialhilfeempfänger nur mehr eine Belastung zu sein. Sie fühlen sich als die "Überflüssigen" der Gesellschaft. Heinz Bude sieht die Gefahr, dass die materielle Bedürftigkeit mit Depressionen, Angst und vor allem mit Einsamkeit einhergeht.

Lösung: Garantiertes Grundeinkommen?
Angesichts der prekären Lage stellen sich Soziologen die Frage: Was tun? Eine Möglichkeit wäre ein garantiertes Grundeinkommen - so lautet der Vorschlag von Karl-Siegbert Rehberg - das ein menschwürdiges Leben der sozial Exkludierten ermöglichen würde.

Migration als Folge der Globalisierung
Eine Folge der Globalisierung ist eine noch nie da gewesene Bevölkerungswanderung, die alle nationalen Schranken sprengt. Diese transnationale Völkerwanderung verursacht bei den jeweiligen Bewohnern Angst; Solidarität ist kaum gefragt, meint Richard Sennett, Professor für Soziologie an der London School for Economics.

"New Economy"

Eine weitere Facette der Globalisierung, die das Leben zahlreicher Menschen beeinflusst, ist die so genannte "New Economy" - die "Neue Ökonomie". Sie hat die traditionelle Ökonomie, die auf der Basis von lebenslangen Beschäftigungsverhältnissen der Arbeitnehmer funktionierte, verdrängt und den Typus des "flexiblen Menschen" geschaffen.

Der flexible Mensch
Charakteristisch für das flexible Arbeitsmodell ist die Auflösung der pyramidalen Ordnung. Gefragt war nun der höchst motivierte Spezialist, der bereit ist, sein Leben nach den Bedürfnissen der Firma auszurichten. Das bedeutet soziale Mobilität und die Bereitschaft, sich ständig neuen Herausforderungen zu stellen, um den Ertrag der Firma immer weiter zu erhöhen. Dieser Prozess ist irreversibel.

Konsumismus
Das Wachstum der "New Economy" ist mit dem Kaufverhalten der Menschen verbunden.
Dominik Schrage vom Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden bezeichnet das Kaufverhalten - den Konsumismus, wie er es nennt - als die eigentliche Basis des Kapitalismus im 20. Jahrhundert. Im Unterschied zu Theodor Adorno oder Herbert Marcuse, die den Konsumismus als Hauptübel des Kapitalismus verantwortlich machten, sieht Dominik Schrage auch durchaus positive Aspekte dieser elementaren Verhaltensweise.

Soziologie der Werte
Hans Joas, Leiter des Max-Weber-Kollegs für Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt, geht es in seiner wissenschaftlichen Arbeit um eine Analyse von Werten, die das menschliche Leben maßgeblich bestimmen. Im Gegensatz zum mainstream der Wissenschaften, wertfreie Analysen zu erstellen, betont Hans Joas die Bedeutung der Werte. Als höchster Wert fungieren die Menschenrechte als Voraussetzung eines menschenwürdigen Lebens. Hans Joas betont den universellen Charakter der Menschenrechte, die durch keine lokalen Rechtspraktiken, Stammesbräuche oder Religionen eingeschränkt werden dürften.

Soziologie braucht Spitzenleistungen
Die emeritierte Soziologin Helga Nowotny, die im ranghöchsten europäischen Forschungs-Beratungsgremium den Vorsitz führt, fordert von der soziologischen Forschung mehr Qualität. Ihre Rezepte dafür sind Risikobereitschaft und interdisziplinäre Zusammenarbeit.

Vergessen sollte die Soziologie jedoch nicht den Ratschlag, den ihr Norbert Elias gegeben hat. "Wenn man verstehen will, worum es in der Soziologie geht", schrieb er, "dann muss man in der Lage sein, seiner selbst als eines Menschen unter anderen gewahr zu werden".

Download-Tipp
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Links
Europa - European Research Advisory Board
Universität Erfurt - Max-Weber-Kolleg
TU Dresden - Institut für Soziologie
London School of Economics and Poitical Science