Mit dem Namen leben

Der Schatten meines Vaters

Richard von Schirach ist gerade vier Jahre alt, als sein Vater zu zwanzig Jahren Haft verurteilt wird. Die Uneinsichtigkeit des Vaters, der bis zu seinem Tod jede Schuld an den NS-Gräueln von sich wies, beschäftigt den Sohn aber noch heute.

Berlin-Spandau, 1953: Zum ersten Mal seit sieben Jahren hat ein Bub aus Bayern die Gelegenheit, seinen Vater wiederzusehen. Der Bub ist elf, der Vater 46, Ort der Begegnung: das Gefängnis der Alliierten. Auch wenn sein Gegenüber ihn mitunter ratlos, mitunter amüsiert mustert, so ist der Bub doch glücklich.

Genau 30 Minuten dauert diese Episode, dann ist die Besuchszeit vorbei, das Gespräch zu Ende, das Gespräch zwischen Richard von Schirach und seinem Vater, Baldur von Schirach, dem ehemaligen NS-Politiker, Jugendführer des Deutschen Reiches und Reichsstatthalter von Wien, jetzt Häftling in Spandau, wo er wegen Beteiligung an den Judendeportationen eine 20-jährige Haftstrafe absitzen muss.

Reichsstatthalter und Gauleiter in Wien

Mit dem Namen Baldur von Schirach ist viel Schlimmes verknüpft: ideologische Indoktrination, Antisemitismus, "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Richard von Schirachs Buch ist jedoch keine späte Abrechnung, es ist der Versuch, den Aufstieg eines Nazi-Politikers nachzuvollziehen, sein geistig-soziales Umfeld zu beleuchten, und zugleich von der eigenen Kindheit zu erzählen, im Zeichen einer ganz sonderbaren Vaterbindung.

Baldur von Schirach baut als "Jugendführer des deutschen Reiches" die Hitler-Jugend auf, der am Ende fast alle deutschen Jugendlichen angehören. Von Hitler wird er zum "Reichsstatthalter und Gauleiter" von Wien ernannt; unter seiner Ägide werden die Wiener Juden deportiert. Vom internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg angeklagt, wird Baldur von Schirach, Vater von vier Kindern, zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt.

"Er hat mir sehr viel gegeben, nicht nur durch zum Teil wunderbare Briefe, die jede Woche eintrafen", erzählt Richard von Schirach über diese Zeit. Um Harmlos-Unverbindliches geht es in den Briefen, um Bücher, Bilder und Musik, und dennoch entwickelt sich, so Richard von Schirach, eine "innige, fast kammertonartige" Beziehung. Da stört auch nicht, dass die Korrespondenz zensiert wird.

Aus tiefer Zuneigung wird Entfremdung

Erste Risse bekommt das Vaterbild spät, als aus dem abwesenden ein anwesender Vater wird. Als Baldur von Schirach 1966 aus der Haft entlassen wird, begegnet Richard einem merklich gealterten, sehr distinguierten, aber irgendwie auch unnahbar und gefühlskalt wirkenden Mann.

"Ich liebte meinen Vater so, wie ich ihn aus den Briefen kannte, aber als er aus seiner trappistenähnlichen Abschließung zu uns kam, war auch er ein Fremder", schreibt Richard von Schirach in seinen Erinnerungen, einem Buch, das über weite Strecken den "Schatten des Vaters" gar nicht als besonders düster und bedrohlich schildert, das aber ausführlich, manchmal vielleicht zu weitschweifig, die eigene Sozialisation rekapituliert und die historische Rolle Baldur von Schirachs weniger mit dem Blick von heute, als aus dem Kontext der Zeit zu erfassen sucht.

Richard von Schirach erzählt, wie tiefe Zuneigung am Ende in Entfremdung umschlägt, wie eine Aufarbeitung der Vergangenheit verweigert wird und alle wichtigen Fragen letztlich offen bleiben. Wie kann ein "Mann von Kultur" sich so leidenschaftlich für eine Diktatur verwenden, sich selbst einen "anständigen Antisemiten" nennen und öffentlich proklamieren, sein höchstes Ziel sei es, Wien "judenfrei" zu machen? Wie kann er später die Deportation und Ermordung von Juden als "aktiven Beitrag zur europäischen Kultur" loben?

Keine Einsicht

1967, ein Jahr nach seiner Haftentlassung, veröffentlicht Baldur von Schirach seine Erinnerungen. "Ich glaubte an Hitler" heißt das Buch, in dem der ehemalige Reichsjugendführer einräumt, von den Vernichtungslagern gewusst zu haben. Schließlich war auch er dabei, als Heinrich Himmler im Oktober 1943 in Posen seine berühmt-berüchtigte Rede hielt, in der es um nichts anderes als um die "Endlösung der Judenfrage" ging.

Ich wartete auf ein persönliches Bekenntnis, auf die einfachen Bekenntnisse, die schlichte, bezwingende Wahrhaftigkeit eines reumütigen Herzens, auf die Stimme seines Gewissens, auf Worte des Mitgefühls, die leisen Töne, welche die Wahrheit des Gewissens aufscheinen lassen. Die Erwartungen und Wünsche, die ich unausgesprochen an ihn gestellt hatte, löste er nicht ein.

Richard von Schirach, am Ende seiner Aufzeichnungen ein Mann von Mitte zwanzig, bleibt schließlich ein von seinem Vater bitter Enttäuschter, er muss erkennen, dass mit dem Mann, den er geliebt, immer in Schutz genommen und wohl auch verklärt hat, ein Dialog nicht mehr zustande kommen kann, dass der Vater keinen Begriff hat von der Tragweite seiner Schuld und sich mit dem Hinweis auf den dem Führer geleisteten Eid von jeder persönlichen moralischen Verantwortung lossagt. So ist es nur konsequent, dass Richard von Schirachs Buch nicht mit dem Tod des Vaters schließt, sondern lange vorher.

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Buch-Tipp
Richard von Schirach, "Der Schatten meines Vaters", Carl Hanser Verlag, ISBN 3446206698