Qual ohne Ende

Gespenster

Wie Untote gehen die Figuren in Christian Petzolds neuem Film durch das Leben: verloren, verlassen, trauernd. Dementsprechend hat der deutsche Regisseur, der durch den Streifen "Die innere Sicherheit" bekannt wurde, sein Werk "Gespenster" betitelt.

Eine Minute verändert im Leben von Mutter und Kind alles. Kindesentführung. Das ist lange her, doch die Vergangenheit lässt die Mutter nicht zur Ruhe kommen. Aus der Schuld, eine Minute lang nicht aufgepasst zu haben, aus diesem Trauma entwickelt sich ein Leben zwischen Wahn und Hoffnung. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen flackert auch beim zufälligen Zusammentreffen mit der halbwüchsigen Nina auf, ein jugendlicher Problemfall ohne familiäre Wurzeln.

Verlust von Halt im Leben

Mit Feingefühl und dramaturgischem Geschick suggeriert Regisseur Christian Petzold eine Verbindung zwischen den beiden Frauenschicksalen, eine Verbindung, die allerdings auf reiner Fantasie und Imagination des Kinozusehers beruht.

Parallelen in der Figurenzeichnung sind dennoch zu erkennen, etwa der Verlust von Halt im Leben, die Suche nach Identität und zwischenmenschlicher Geborgenheit, Wünsche, die trügerische Wirklichkeiten entstehen lassen, die Sehnsucht nach einem Platz in der eigenen Seele, von dem aus man neu beginnen kann. Eine Anbindung an die konkrete Wirklichkeit ergibt sich für Nina immerhin in der Beziehung zur ebenfalls jugendlichen Toni, eine Liebe, die für beide Mädchen aus Selbstisolation und Einsamkeit herausführen könnte. Und dennoch scheitert.

Von Grimm-Märchen inspiriert

"Das Totenhemdchen" heißt ein Märchen, in dem ein Kind stirbt, aber nicht zur Ruhe kommen kann, weil die Hinterbliebenen zu stark trauern. So muss das Kind als Gespenst in das Haus der Mutter zurückkehren. Diese Fabel der Gebrüder Grimm hat Christian Petzold stark inspiriert, auch wenn sein Film alles andere als ein Märchen ist.

Formal eigenwillig

Karge Dialoge, darin lange Pausen, Verfremdungseffekte in der Präsentation der Berliner Schauplätze, eine Bildgestaltung, die nicht aufdringlich mit Effekten hantiert, sondern um kühle Distanz zum Geschehen bemüht ist. Nicht zuletzt die formale Eigenwilligkeit macht den film "Gespenster" bis zum Schluss geheimnisvoll.

Christian Petzold bricht die konventionelle Wahrnehmungslogik im Kino. Er bedient keine Erwartungshaltungen, sondern verweigert diese geradezu: Erlösung durch eine Auflösung dieses umfassenden Rätsels gibt es nicht, vielmehr wird jeder Einzelne im Kino gefordert, ja geradezu aufgefordert und ermutigt, selbst für Sinn zu sorgen. Dabei könnte es aber sein, dass so manches gespenstisch bleibt.

Service

Gespenster
D, 2005
Mit: Marianne Basler, Julia Hummer, Sabine Timoteo u. a.
Drehbuch und Regie: Christian Petzold