Interviews mit damaligen Zeitzeugen

Hitlers "jüdische" Soldaten

Rund 150.000 Juden trugen die Uniform der deutschen Wehrmacht. Das Motiv war meist die Hoffnung, die eigene Verwandtschaft zu schützen. Oder selbst zu überleben. Der US-Historiker Bryan Mark Riggs hat Schicksale nachgezeichnet.

Ex-Bundesminister Egon Bahr erinnert sich

Wie konnte es sein, dass 150.000 Juden in Hitlers Armee dienten, dessen Ziel die Vernichtung der Juden in Europa war? Dieser Frage versuchte der Amerikaner Bryan Mark Rigg anhand von Interviews mit Zeitzeugen in der Aufsehen erregenden Studie "Hitlers jüdische Soldaten" nachzugehen.

Dokumentation von 1.671 Zeitzeugen

Drei Fragestellungen bildeten in der Studie von Bryan Mark Rigg die Basis, die Schicksale von insgesamt 1.671 jener 150.000 Juden in Hitlers Armee zu dokumentieren, die in der Geschichte als "Halb"- beziehungsweise "Vierteljuden" klassifiziert wurden und dennoch in der Wehrmacht kämpften, nämlich:

Wie konsequent wurde die NS-Rassenpolitik in Heer, Luftwaffe und Marine durchgeführt?

Wie ging die Wehrmacht mit den Betroffenen um?

Welche Motive hatten Deutsche jüdischer Herkunft, die Uniform eines Regimes zu tragen, das sie und ihre Verwandten mit Unterdrückung und Tod bedrohte?

Berühmte Namen

In der Studie zeigt sich, dass es zunehmende Verschärfungen während des Krieges, aber auch ständige Ausnahmeregelungen und Genehmigungen von Hitler selbst wie von den Vorgesetzten gab. Von den 1.671 Fällen konnte Rigg mit etwa 430 betroffenen Soldaten persönliche Interviews führen - darunter mit so bekannten Namen wie der deutsche Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, der wegen seines jüdischen Großvaters als "Vierteljude" galt oder etwa der deutsche Ex-Bundesminister Egon Bahr, dessen Großmutter, Mutter und seine sechs Tanten und Onkeln jüdisch waren. Diese Interviews hat der amerikanische Historiker auch in seinem gleichnamigen Buch dokumentiert.

Das Aufsehen, das Studie samt Buch verursacht hat, verpufft aber schnell, sobald man genauer hinschaut. Riggs Protagonisten sind fast alle Deutsche jüdischer Herkunft. Auch wenn viele von ihnen von den Nationalsozialisten und den Rabbinern zu Juden gemacht wurden, betrachteten sie sich selbst nicht als Juden, wie etwa der ehemalige deutsche Abgeordnete und damalige Gefreite Werner Goldberg ...

Den Begriff "Rasse" gab's vor Hitler nicht

"Ich bin christlich getauft, eingesegnet und erzogen worden. Ich wusste vom Judentum gar nichts. Mein Vater hat sich 1902 in Königsberg taufen lassen; auch meine ganze Verwandtschaft war getauft. Nicht einmal in meiner Geburtsurkunde steht was drin, dass sie jüdischer Abkunft sind".

Goldberg erinnerte sich zwar, dass es in jenerZeit schon den Begriff 'Mischehen' gegeben hatte: "Das waren Ehen, die zwischen Katholiken und Protestanten geschlossen wurden. Aber 'Rasse’? Das ist doch erst nachher eine Erfindung von Hitler gewesen. Das hat es vorher noch gar nicht gegeben. Und nun wurden wir plötzlich zu Juden gemacht. Wir waren auf einmal Nichtarier. Wir wussten damals ja nicht einmal, was 'Arier’ sind“, so Goldberg.

Bis zu Hitlers Machtergreifung galten die Juden in Deutschland als eine Religionsgemeinschaft. Mit dem Übertritt zum Christentum war man daher kein Jude mehr. Hitler erklärte das Judentum offiziell zur "Rasse", der er den "totalen Kampf" ansagte.

"Mischlinge ersten und zweiten Grades"

Die Ausrottung der Juden begann 1935 mit den Nürnberger Gesetzen, die zwei neue "rassische“ Kategorien schufen: den "Halbjuden“ oder "jüdischen Mischling ersten Grades“ und den "Vierteljuden“ oder "jüdischen Mischling zweiten Grades“. Ein "Halbjude“ hatte zwei jüdische Großeltern, ein "Vierteljude“ einen jüdischen Großelternteil.

Für die Nationalsozialisten blieben Juden, die zum Christentum übergetreten waren, weiterhin Juden. Juden und Mischlinge sollten aus der so genannten deutschen "Volksgemeinschaft“ verbannt werden.

Die Ausnahmegenehmigungen Hitlers

Nach der Einführung der Wehrpflicht 1935 wurden "Halb- und "Vierteljuden" in die Wehrmacht aufgenommen. Sie durften aber keine Vorgesetzte werden. 1940 ordnete Hitler jedoch an, alle "Halbjuden" aus der Armee zu entlassen. Mit diesem Schritt wollte er verhindern, dass durch ihren Dienst an der Front ihre jüdische Verwandten Vergünstigungen erhielten. 1944, als Deutschland jeden Mann brauchte, wurden sie teilweise wieder rekrutiert. Die Hälfte aller Verluste - sowohl in der Wehrmacht als auch in der Zivilbevölkerung - entstand zwischen dem Juli 1944 und dem Ende des Krieges.

Nicht jeder in Hakenkreuz-Uniform war Nazi

"Ich habe Glück gehabt, ich bin Gott sei Dank rechtzeitig aus der Wehrmacht entlassen worden", sagt Ex-Bundesminister Egon Bahr, der den Zweiten Weltkrieg unversehrt überlebt hat.

Auch Werner Goldberg als so genannter "Halbjude" überlebte. Nach seiner politischen Laufbahn arbeitete er u. a. ehrenamtlich in der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der Europa-Union und als Vorsitzender des Bundes der Verfolgten des Naziregimes unermüdlich weiter, ehe er im Vorjahr im Alter von 85 Jahren verstarb. Er - der damals mit seinem Foto in der Presse den "idealen deutschen Soldaten" verherrlichte - meinte einmal, dass die Wehrmacht, die er kannte, nicht die SS und die fanatischen Nazis waren; diese waren in der Minderheit. Und Bryan Mark Rigg bestätigt: "Nicht jeder, der eine Uniform mit dem Hakenkreuz trug, war ein Nazi, genauso wenig wie nicht jeder deutsche Offizier ein 'reinrassiger Arier' war und nicht jeder 'arische' Offiizer ein fanatischer Antisemit".

Mehr zum Thema Politik in Ö1 Inforadio

Buch-Tipp
Bryan Mark Rigg, "Hitlers jüdische Soldaten", Ferdinand Schöningh Verlag, ISBN 3506701150

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich herunterladen.