Wider das kulinarische Vorurteil
Der Salzgurkenmeridian
Der Eiserne Vorhang im Kopf lässt sich leichter abbauen als derjenige im Magen. Die Unlust der meisten Westler, ehemalige Ostblockländer überhaupt zu besuchen, nimmt langsam ab, Aber gut essen - so will es ein Vorurteil - könne man dort kaum. Ein Irrtum.
8. April 2017, 21:58
Von Baja bis Szeged: Fischsuppe als Weltanschauung
Die Auseinandersetzung mit Pierogi, Sarma, Barszcz, Halászlé und über die Meisterschaft, die solche Gerichte erfordern, über ihren enormen Variantenreichtum - das alles transportiert sozusagen automatisch jede Menge Politik- und Sozialgeschichte.
Wie überall auf der Welt führen die Aromen und Konsistenzen der Speisen in das Innere des Lebensgefühls, erlauben Rückschlüsse auf Völkerwanderungen und Okkupationen, Mentalitäten und Gesellschaftsstrukturen.
Salzgurkenmeridian - die Wortschöpfung der Autorin markiert im Unterschied zum "Weißwurstäquator" die Salzgurken-Grenze.
Es erscheint symptomatisch, dass selbst im gurkerlvertrauten Ostösterreich viele den Unterschied gar nicht kennen. Mein Salzgurkeninitiationserlebnis kam aus einem Glas, das nie einen Tropfen Essig gesehen hatte.
Dreißig Grad in Südungarn. Eine Bäuerin bietet eisgekühlte Sommer-Salzgurken an - sogenannte "Kovászas Uborka". Die schmecken - nach dreitägiger Gärung mit etwas Brot und Gewürzen in Salzwasser - nur dezent säuerlich, etwa in dem Grad wie eisgekühlte Molke.
Grauslich? Ordinär? Blödsinn! Bei wirklich guten Salzgurken findet sich das Erdig Gurkige dank dem Säuerlichen zu einer erfrischenden, fein abgetönten Note sublimiert.
Keine Rechtfertigung
Nein. Ich will mich jetzt nicht wieder rechtfertigen. Will den Gourmets dieses Landes nicht wieder erklären, dass auch ich über einen italo-frankophil sozialisierten, kalorienbewussten Kulinarik-Background verfüge. Dass ich mich zu jenen wählerischen FrischzutatenjägerInnen kreuz und quer durch Wien zähle, die bei mehr als einmal gebrauchtem Bratfett in der Pfanne oder Grossküchen-Fertigwürze Zustände bekommen.
Also: Wer mir nicht glaubt, dass zum Beispiel Pierogi, die polnischen Ravioli, mit genauso feinen Füllungsrezepten renommieren können wie ihre italienischen Verwandten, der ist selbst schuld.
Richtig ist, dass die böhmische, ungarische oder polnische Küche ihre kreative Anpassung an heutige urbane Ess-Standards zum Teil noch vor sich haben. Der Mainsteam dieser Küchen befindet sich noch im eher kalorienreichen Originalzustand - der aber nichts über die Qualität aussagt. (Wiener Schnitzel oder Mohr im Hemd sind ja auch nicht gerade leicht...)
Falsch ist die Behauptung, osteuropäische Küchen seien primitiv, unterentwickelt, blosse Bauernküchen (als ob das ein Fehler wäre). Dieses Vorurteil stammt aus schlichter Unkenntnis.
Politik geht durch den Magen
Die Gastronomie der Ex-Ostblock- Staaten erholt sich nur langsam von ihrer totalen Pervertierung im Kommunismus. Wieder: Auf dem Teller äußert sich die historisch-politische Wirklichkeit klar wie nirgends. Im verstaatlichten Gasthaus konnte man das Regime schmecken. Am Maschinenöl-artigen Bratfett. Am Styropor-Aroma der Torte. Am muffigen Keller-Odeur der Erdäpfel. Wer in Osteuropa nie in Privathaushalten zu Tisch war, hat von dortigen Kochtraditionen keine wirkliche Ahnung. In gut kochenden Privathaushalten, muss betont werden.
Beispiel Salzgurken
So gute wie bei jener südungarischen Bäuerin habe ich nicht oft gegessen. Die Salzgurke steht durchaus paradigmatisch für ein Hauptcharakteristikum osteuropäischer Gerichte. Die meisten gehören in die Kategorie: Einfach zu erklären, schwer zu kochen, weil die Verarbeitung der simplen Zutaten vor allem Erfahrung benötigt.
Die Details sind das Heikle. Wie stark sticht oder schneidet man die Salzgurken vorher ein? Wo ist der ideale Platz für das Glas? Welches Brot taugt zu optimaler Gärung?
Und was das ungarische Gulyás anbelangt, so bemerkt der Gourmetkritiker Christoph Wagner in seinem kulinarischen Reisebuch "Köstliches Ungarn" völlig zu Recht: "Über das Wesen des Guylás ließen sich ganze Dissertationen schreiben".
Beispiel Kraut
Und dann gar das Gefüllte Kraut! Eine wirklich Kunst. Wie saure Krautblätter müssen wie stark gewässert werden, damit sich jene ideal-runde Harmonie aus Reis, Faschiertem, Kraut- Schmalz- Speck- und/oder Paprikawurstgeschmack einstellt, die man zu Hause bisher nicht in solcher Vollendung fertiggebracht hat wie die Köchinnen für die Drei-Tage-Hochzeiten in Siebenbürgen in ihren riesigen Töpfen?
Krautrouladen aus Sauerkraut- oder fallweise Süsskraut-Blättern werden von der baltischen Ostsee bis Bulgarien in unzähligen Füllungsvariationen gegessen. Mit nur Faschiertem, nur Reis oder einer Mischung aus beidem, mit Mais, Weizen, gehacktem Gemüse und Nüssen, Gänsefleisch.
Unklare Besitzverhältnisse
Krautrouladen seien ein ungarisches Nationalgericht, sagen die Ungarn ("töltött káposzta"), nein, ein rumänisches, die Rumänen (sarmale). Oder gehören sie doch, als "golubki", den Polen?
Eine ungarische Künstlerin veranstaltete letzten Winter ein Tanzfest in einem Wiener Lokal. Auf breiten Tellern häufte sich unter anderem Sauergemüse: Eingelegte Paprika, Karfiol- und Karottenstückchen. Eine Kroatin - sie wusste, wie gut so etwas schmecken kann - und ich stürzten uns als erste auf dieses feinste eingelegte Gemüse, das wir seit langem gegessen hatten. Wo die Ungarin es her hatte? Aus einem türkischen Supermarkt in Ottakring.
Lückenlose Beweisketten über Herkunft und Wege der Speisen existieren generell nicht. Die für solche Fragen vor allem zuständige Ethnologie kann mit Einzelstudien, nicht aber mit einer enzyklopädischen Gesamtschau aufwarten. Zum wahren Ursprung kulinarischer Erfindungen lassen sich oft nur Hypothesen aufstellen. Zu komplex erscheint die manchmal jahrtausendealte Geschichte ihrer Verbreitung über globale Handels- und Migrationsrouten.
Schon jemals Palotzensuppe gegessen? Rumänische Ciorba de Burta (für Kuttel-Fans)? Bigos? Zurek?
Mehr zu diesen Rezepten in oe1.ORF.at
Download-Tipp
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Buch-Tipps
Christoph Wagner, "Köstliches Ungarn. Ein kulinarischer Reiseführer", Pichler Verlag, ISBN 3854313322
Károly Gundel, "Kleines Ungarisches Kochbuch", aus dem Ungarischen von Hannelore Schmör-Weichenhain, Corvina Verlag, ISBN 9631344967
György Hargitai, "Ungarische Küche", Verlag Média Nova, Ungarn
Radu Anton Roman, "Savoureuse Roumanie - 358 recettes culinaires et leur historie", Aus dem Rumänischen ins Französische übersetzt von Marily le Nir, Editions Noir sur Blanc, ISBN 2882501366
Dagmar Dusil, "Blick zurück durchs Küchenfenster", Siebenbürgische Kochrezepte und Geschichten einer gebürtigen Hermannstädterin, Johannis Reeg Verlag Heilbronn, ISBN 3000082662
Gunther Hirschfelder, "Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute", Campus Verlag, ISBN 3593379376, Erscheinungstermin: 15. September 2005