Am Hof des roten Zaren

Stalin

War man früher bezüglich der Gräueltaten des Stalin-Regimes fast nur auf äußere Indizien angewiesen, etwa auf Zeugenaussagen von Überläufern und entkommenen Opfern, so gelingt es Simon Montefiore nun, das ältere Bild um eine Innensicht zu ergänzen.

Anhand der persönlichen Korrespondenzen der bolschewistischen Führungszirkel können Beziehungskonstellationen nun nachgezeichnet werden, sodass diese Studie von Simon Montefiore über eine personalisierte Biografie Stalins weit hinaus geht. Im Mittelpunkt der Darstellung steht daher der bolschewistische Führungszirkel rund um Stalin.

Die Partei fungierte nicht nur als Vorhut, sondern auch als die Überfamilie. Trotzki hatte sich nach Lenins Tod für verwaist erklärt, Kaganovich, Stalins Stellvertreter im Sekretariat der Partei, nannte Stalin schon unseren Vater.

Familiäre Atmosphäre

Vor den großen Säuberungswellen herrschte in der bolschewistischen Elite eine kollegiale, wenn nicht gar familiäre Atmosphäre. Fast die gesamte bolschewistische Machtelite wohnte samt ihren Familien im Kreml. Man agierte abgehoben und abgeschirmt hinter verschlossenen Mauern, kultivierte Gefühlskälte nach außen und lebte innen in geradezu inzüchtigen Verbindungen, wie es der Autor Simon Montefiore ausdrückt.

Stalin selbst galt als äußerst jovial, leutselig und belesen. Er hatte genaue Kenntnisse über die kulturellen Leistungen und stand im Ruf, selbst die Zensurarbeiten zu erledigen.

Stalin war nicht der träge Bürokrat, für den Trotzki ihn hielt, und ohne Zweifel ein Mann von großem Organisationstalent. Er improvisierte nie, sondern traf seine Entscheidung nach reiflicher Abwägung. (...) Während ihm einerseits echte Empathie fehlte, beherrschte er meisterhaft die Kunst, Menschen für sich einzunehmen.

Erschreckende Sachlichkeit

Anhand dieser Atmosphäre lassen sich nun die inneren Mechanismen des Machtzirkels besser verstehen. Wie haben sie miteinander korrespondiert, als sie eine Hungersnot, die den Tod von Hunderttausenden besiegelte, planten? Teilweise waren es zynische Bemerkungen, teilweise das übliche ideologische Vokabular, recht häufig findet sich auch jene erschreckende Sachlichkeit der Darstellung, wie sie auch unter den Nationalsozialisten üblich war.

Anhand des neuen Archivmaterials kann der Autor zu strittigen Fragen der Forschung nun eindeutig Stellung nehmen. Eine davon ist jene nach der Verantwortung für den Terror, der während der großen Hungersnot in der Ukraine und später während der großen Säuberungen, die wie eine Sogwelle die gesamte Gesellschaft erfassten, dem unmittelbaren Machtzirkel längst entglitten schien.

Ein hoher bolschewistischer General schrieb Stalin 1932: "Durchs Zugfenster habe ich sehr erschöpfte Menschen gesehen und unsere Pferde sind nur mehr Haut und Knochen". Ein hoher ukrainischer Parteibürokrat zeichnete ein viel genaueres Bild: "Wir wissen, dass Millionen sterben. Das ist ein Unglück, aber die glorreiche Zukunft der Sowjetunion wird es rechtfertigen". Bis 1933 sollten 1,1 Millionen Familien, das heißt sieben Millionen Menschen, alles verloren haben. Sehr viele wurden deportiert, mindestens drei Millionen liquidiert.

Minutiös geplant und gesteuerter Terror

Simon Sebag Montefiore kann zeigen, dass sowohl Stalin als auch sein engeres Umfeld den Terror minutiös planten und steuerten, zahlreiche Opferlisten persönlich durchsahen und sich über die Vorgänge kontinuierlich besprachen. Der Terror kann somit endgültig nicht mehr als eine Etappe des Bolschewismus bezeichnet werden, sondern als Regierungsmethode.

Der Terror erreichte zwar immer wieder unvorstellbare Höhepunkte in den 30er Jahren, nachdem Stalin seine Macht konsolidiert hatte, doch er kam nie zum Stillstand, er war ein permanentes Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele. Unter jenen, die ihres eigenen Schutzes bzw. ihrer Karriere wegen die vom Zentrum vorgegebenen Ziele ständig übererfüllten, befanden sich später als große Antistalinisten geltende Funktionäre wie etwa Nikita Chruschtschew.

Chruschtschew ordnete 1937 von Moskau aus faktisch die Erschießung von 55.741 Verdächtigen an, womit er die vom Politbüro ursprünglich auf 50.000 festgesetzte Quote gut übererfüllte.

Fast literarisches Niveau

Die Stärke von Simon Sebag Montefiores Buch liegt in der Rekonstruktion der Ereignisse. Der Autor erweist sich als ein exzellenter Kenner nicht nur des Archivmaterials und der einschlägigen Literatur, sondern auch des gesamten sowjetischen Russlands.

Seine Stärke liegt sicherlich nicht im Bereich der Analyse, dennoch ist das Buch sehr spannend und auf einem stilistisch hohen, fast literarischen Niveau verfasst. Aus diesem Grund ist es sowohl für die Forschung als auch für jeden interessierten Leser ein großer Gewinn.

Buch-Tipp
Simon Sebag Montefiore, "Stalin. Am Hof des roten Zaren", aus dem Englischen übersetzt von Hans Günther Holl, S. Fischer Verlag, ISBN 3100506073