Aus dem Leben gerissen

Saturday

Ein ganz gewöhnlicher Samstag, der 15. Februar 2003, hat es für Henry Perowne, Hauptfigur in Ian McEwans neuem Roman, in sich. Ein kleiner Vorfall - ein kaputter Rückspiegel - bringt Dinge ins Rollen, deren Nachwirkungen alles und alle verändern.

Henry Perowne ist Gehirnchirurg. Und offensichtlich ist der Gehirnchirurg ein Alter Ego seines Schöpfers, des Autors Ian McEwan. Ein sehr idealisiertes Alter Ego, darf man anmerken. Henry Perowne ist aufrecht, erfolgreich, wohlhabend. Beruflich ist er Top, ein sorgender, selbstverständlich treuer Ehemann der charmanten Rosalind, die ihrerseits - als Rechtsanwältin - eine emanzipierte und liebevolle Partnerin darstellt.

Dazu ist Henry auch körperlich fit, er ist politisch interessiert, aber keinesfalls fanatisch. Kurzum, Henry Perowne ist perfekt. Ein Staatsbürger, ein Mann, ein Mensch, wie er im Buche steht und nur dort stehen kann.

Ein Autounfall mit Folgen

Henrys Probleme an jenem Samstag, dem "Saturday", beginnen mit einem kleinen Autounfall. In einer engen Gasse streift er mit seinem silber-metallic lackierten Mercedes - was sonst - leicht an einem anderen Auto. Der Schaden ist an sich minimal: ein abgebrochener Rückspiegel.

Henrys Pech: Das unfallgegnerische Fahrzeug gehört einem kleinen Vorstadtganoven, einem Strizzi, wie man in Wien sagt, mit Namen Baxter. Der rot schimmernde, Status-trächtige BMW ist, wie es scheint, der ganze Stolz seines tendenziell gewaltbereiten Eigners.

"Ich nehme an, sie wollen mir jetzt sagen, wie Leid es Ihnen tut." - "Jedenfalls ist dies der Moment, unsere Versicherungsdaten auszutauschen", erwidert Henry. (...) "Zum Glück für Sie habe ich einen Kumpel, der ist Autoschlosser. Ich schätze, für 750 kriegt er das wieder hin." Henry weiß, dass er das Angebot besser annehmen sollte. "Ich werde Ihnen kein Geld geben", sagt er dennoch.

Fast ein Märchen

Dank seines überlegenen Intellekts kann Henry Perowne auch diese brenzlige Situation bewältigen und sich in einem unbeachteten Moment sogar würdevoll aus der Affäre ziehen. Doch die Ehre Baxters ist dadurch erst recht angekratzt, und so platzt er mit seinen Kumpanen wenige Stunden später in die in Henrys Haus versammelte Familie.

Auch diese höchst gefährliche Situation, so viel vorweg, wird dank des unerschütterlichen Henry und seines beherzten Sohnes Theo glimpflich enden. Schlusspointe: Der Gehirnchirurg wird seinen schwer am Kopf verletzten Widersacher und Quälgeist Baxter sogar noch notoperieren und ihm das Leben retten. Es ist wie im Märchen.

Das Wesen des menschlichen Geistes

Zwischendurch nutzt Autor Ian McEwan die berufliche Beschäftigung seiner Hauptperson mit dem menschlichen Gehirn zu allerlei Betrachtungen über das Wesen des menschlichen Geistes. Ian McEwan nähert sich dem Problem, indem er immer wieder, in angespannten und in ruhigen Situationen, in heiteren und in schwierigen, die Vorgänge im Gehirn benennt, die sich dabei gerade abspielen: das Kochen und Dampfen der Chemie, den Austausch der Signale und Botenstoffe. Ist jemand also gerade verwirrt, ist das auf diesen elektrochemischen Prozess zurück zu führen, ist er aggressiv, auf jenes Hormon. In diesem Punkt hat der britische Autor den Stand der Wissenschaft eingehend recherchiert. Das Problem dabei: Der Stand der Neurowissenschaften gibt für die Frage des Wesens von Seele und Sein vorderhand nicht so viel her, wie man gern möchte.

Er zweifelte nicht daran, dass man den Kodierungs-Mechanismus irgendwann entschlüsseln würde, wenn auch vielleicht nicht zu seinen Lebzeiten. Das Geheimnis des Gehirns würde sich offenbaren. Doch selbst dann bliebe das Wunder, wie die bloße feuchte Materie dieses strahlende Kino der Gedanken, Bilder, Töne hervor bringt, gebündelt zur lebendigen Illusion einer Gegenwart. In deren Mitte wie ein Gespenst die Vorstellung eines Ich hockt, eine weitere herrlich gewobene Illusion.

"Ein intelligenter, wissenschaftlich fundierter und dabei ungemein fesselnder Roman", schreibt der Kritiker Per Svensson dazu in der renommierten "Süddeutschen Zeitung". Dem ist nichts hinzu zu fügen.

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Buch-Tipp
Ian McEwan, "Saturday", übersetzt von Bernhard Robben, Diogenes Verlag, ISBN 3257064942