Kulturjournalismus in Zeiten wie diesen

Sterben wie ein Samurai

Kultur ist seit dem Ende des Kalten Krieges wieder das, was sie schon einmal war: Betäubungsmittel fürs Volk, Aphrodisiakum für Betuchte, öffentliches Brausebad für angepatzte Politiker. Für den Kulturjournalisten heißt das: mitgehen oder kaputt gehen.

Weil die Leute statt des Besten aller Zeiten immer nur das Neueste lesen, bleiben die Schriftsteller im engen Kreise der zirkulierenden Ideen, und das Zeitalter verschlammt immer tiefer in seinem eigenen Dreck. (Arthur Schopenhauer: Über Lesen und Bücher)

Über den Tod eines Samurai erzählt man sich Folgendes: Langsam und mit großer Würde stieg der Verurteilte auf den erhöhten Fußboden, verneigte sich zweimal tief vor dem Altar und nahm dann mit dem Rücken zu ihm auf dem Teppich Platz. Nun trat einer der drei Begleitoffiziere vor. Er trug ein Tischchen von der Art, wie sie im Tempel für Opfergaben benutzt werden, auf dem das in Papier gewickelte Wakizashi lag, das kurze Schwert oder japanischer Dolch, neuneinhalb Zoll lang, dessen Spitze und Schneide so scharf wie ein Rasiermesser sind...

... Wenn die Welt nicht verschwindet, dann verschwinde eben ich. "Einer geht immer", sagt Charles Bronson in "Spiel mir das Lied vom Tod", und keine Bemerkung ist wahrer als diese. Einer geht immer, aber es ist immer der Falsche. Kommen Sie mir nicht mit der Wahrheit, sagt der leitende Redakteur B., in Zeiten wie diesen zeugt es von mangelnder journalistischer Intelligenz, von Wahrheit sprechen zu wollen. In B.s Büro fühlt man sich, als wäre man mit der Zeitmaschine ins Jahr 1973 zurückgeschleudert worden, und zwar nach Bukarest. Und wenn er seinen Mund im Schwarzmeer-sonnengebräunten Gesicht öffnet, um über die Wahrheit zu dozieren, dann hört sich das an, als hätte man ihm in der Zensurbehörde das Hirn mit Weihnachtskeksstechern in lauter kindische Formen zerschnitten. Wer Sternchen und Monde und Schiffchen in seinem Schädel liegen hat, der kann nicht mehr vernünftig denken. Aber B. wird der Welt noch eine Zeit lang erhalten bleiben und ich muss gehen. Tja, es gibt eben nur einen Gott der Mutlosen und ein Spross aus altem böhmischen Adel ist sein Prophet...

... Nachdem er sich verneigt hatte, wird über den zum Tod verurteilten Samurai erzählt, sprach er ohne einen Ausdruck in seinem Gesicht oder in seinen Gesten folgende Worte: Ich, und ich allein habe zu Unrecht den Museumsdirektor einen windigen Ägyptologen genannt, der Einreiseverbot nach Ägypten hat, obgleich es wahr ist; ich habe zu Unrecht behauptet, Kultur sei bekanntlich schon, wenn der Operndirektor sich die Zahnprothese in den Mund schiebt, in Jesolo Calamari fritti essen geht und einen schmutzigen Witz erzählt, obgleich es wahr ist; ich habe zu Unrecht Anna Netrebko eine gewerbsmäßige Nervensäge mit dem Charme eines ukrainischen Mafiagroupies genannt, obgleich es wahr ist. Für diese Verbrechen schlitze ich mir jetzt den Bauch auf, und ich bitte Sie, die Sie hier anwesend sind, mir die Ehre zu erweisen, Zeugen dieses Aktes zu sein...

... Hören Sie, sagt B., ich kann Sie nicht halten, ich will Sie gar nicht halten, denn Sie haben in all den Jahren nicht begriffen, das Journalismus, intelligenter Journalismus, nichts mit Wahrheit zu tun hat oder mit Fakten, um ihr Lieblingswort zu gebrauchen. Als käme es auf Fakten an! Als existierten Fakten überhaupt! Als ob Fakten nicht erst geschaffen werden müssten! Mit Fakten, Herr Kollege, schneidet man einen Journalisten in Scheiben wie eine Extrawurst - faktfaktfakt, so geht das im Takt und Sie sind bloß noch als Futter für die Hunde jener Politiker zu verwerten, die, was ich ausdrücklich betonen möchte, mit meiner Stellung als leitender Redakteur nichts, aber schon gar nichts zu tun haben.

Eine Aussage, die B. nicht einmal mehr erröten, sondern bloß das vom Operndirektor abgekupferte Grinsen im Gesicht einfrieren lässt. B. hat dem Staatssekretär schon die Krümel vom Schoß gepickt, als der noch Schauspieler war...

... Er verbeugte sich noch einmal, wird über den Samurai berichtet, streifte sein Gewand bis unterhalb des Gürtels ab und blieb mit nacktem Oberkörper sitzen. Nachdenklich, doch mit fester Hand, nahm er das vor ihm liegende kurze Schwert, betrachtete es aufmerksam, nahezu liebevoll. Einen Moment lang schien er sich zum letzten Mal zu sammeln. Endlich stieß er es sich tief in die linke Seite, unterhalb der Taille, führte die Klinge langsam bis zur rechten, drehte es in der Wunde um und vollführte einen leichten Schnitt aufwärts...

... Wer hätte sich noch vor wenigen Jahren gedacht, dass man als Kulturredakteur in Teufels Küche kommt, wenn man das Romandebüt eines Ministerpressesprechers ignoriert oder einen Gedanken von Robert Menasse als hanebüchen bezeichnet? Auch Taschenträgern und Schriftstellern fallen zwischen Zähneputzen und Schlafengehen ganze Romane und halbe Polemiken ein, gut, das soll ja auch so sein. Das Fatale daran ist aber, dass wir von leitenden Redakteuren wie B. angehalten sind, die Ergüsse der Rechten gut zu finden (Denken Sie nicht immer so international, fordert B., man will von uns Flagge sehen! Rot Weiß Rot, mein Lieber!) und jene der Linken als diskutierenswert (Einseitigkeit, sagt B., lasse ich mir nicht vorwerfen. Wir sind per Gesetz zur Objektivität verpflichtet!)...

... Während dieser schrecklich schmerzhaften Operation, heißt es über den Tod des Samurai, bewegte sich kein einziger Muskel seines Gesichts. Als er das kurze Schwert herauszog, beugte er sich vor und bot den Nacken dar. In diesem Moment sprang der Kaishaku, der im Knien jede seiner Bewegungen aufmerksam verfolgt hatte, auf und schwang sein Schwert für eine Sekunde in der Luft. Dann ein Blitz, ein dumpfer, schauerlicher Schlag, das Geräusch von etwas Fallendem - der Kopf war mit einem Schlag vom Rumpf getrennt worden...

... B. möchte, dass ich mich in Zukunft dem "intelligenten" Journalismus zuwende. Sofern ich mich überhaupt noch etwas zuwende, was er zu verantworten hat. Damit meint er einen Journalismus, der das Gemeinte nicht ausspricht, über den Umweg blumiger Metaphorik oder historischer Exkurse aber doch begreifbar macht. Für den, der es begreifen möchte. Es muss aber der interpretatorische Freiraum gegeben sein, die Geschichte auch ganz anders verstehen zu können. Das, so B., sei das öffentlich-rechtliche Prinzip: Journalismus für alle. Und um gar nicht erst die genannten Umwege gehen zu müssen, proklamieren wir den positiven Kulturbegriff! Ich möchte von Bregenz bis Eisenstadt Harald Serafin lachen und Otto Schenk poltern hören, ruft B. und schlägt sich auf die Schenkel, ich möchte, dass Dagmar Koller die steile Zigeunerbraut im "Mann von La Mancha" spielt, bis die Zellulitis aus ihrer Haut einen Palatschinkenteig gemacht hat; ich möchte darüber staunen können, wie der Darsteller des Salzburger "Jedermann" sich Jahr für Jahr zum Weltdeuter aufschwingt; ich möchte sklerotische Bankdirektoren sehen, die sich Festivalleiter mit weißgewaschenem Schwarzgeld unbestimmter Provenienz kaufen, kurzum: Ich möchte einen Kulturbericht stehend genießen und mich ganz und gar in Österreich wähnen dürfen...

... Die nun folgende Totenstille wurde lediglich vom grässlichen Geräusch des Blutes durchbrochen, das dem vor uns niedergesunkenen, reglosen Haufen entquoll, der einen Augenblick zuvor ein tapferer und ritterlicher Mann gewesen war. Es war entsetzlich. Als erster Zuschauer meldete sich der Zentralbetriebsratsobmann zu Wort. Jetzt werden wir aber nicht gleich von einem Blutvergießen sprechen wollen, sagt er und breitet seine Arme aus, als wolle er die Herde der Verunsicherten schützend umfassen. Lassen wir die Kirche im Dorf, mehr als ein Blutströpferl ist es letztlich nicht. B. wischt sich den Schweiß von der Stirn, jetzt hat er nichts mehr mit der Angelegenheit zu tun. Und das restliche Publikum kehrt stumm zu seiner Arbeit zurück. Einer geht immer. Es ist gut, dass es einen anderen getroffen hat...

Buch-Tipp
Maurice Pinguet, "Der Freitod in Japan. Geschichte der japanischen Kultur", aus dem Französischen von Beate von der Osten, Makoto Ozaki und Walther Fekl, Eichborn Verlag 1996