Uralte Praktiken wurden vom Christentum übernommen
Schamanismus im Alpenraum
Viele alte religiöse Vorstellungen des Alpenraumes haben mehr mit Schamanismus zu tun als man annimmt. Wenn man einen christlichen Wallfahrtsort in der Hoffnung auf Genesung aufsucht, dann ist das den Heilungsritualen des Schamanentums sehr ähnlich.
8. April 2017, 21:58
Schamanen - sind das nicht jene Heiler und Medizinmänner fremder Kulturen, die mit magischen Ritualen, Trommelmusik, Heilpflanzen und anderen Dingen gesundheitliche Probleme heilen?
Richtig! Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn zum einen lassen sich Schamanen nicht auf die Funktion des Heilers reduzieren. Sie fungieren in ihren Gesellschaften meist auch als Weissager, Unterhalter, Politiker und Wettermacher. Zum anderen ist Schamanismus kein Phänomen fremder Kulturen, sondern durchaus auch in unseren Breiten anzutreffen, behauptet der Ethnologe Kurt Lussi vom Historischen Museum Luzern.
Tote beschwören
In fremden Kulturen - etwa in der Mongolei oder in Sibirien - ist es durchaus üblich, dass bei Krankheit oder nach einem Unglück der Schamane um Hilfe gerufen wird. Nicht selten lautet dann seine Diagnose, dass ein toter Familienangehöriger das Wohlergehen der Lebenden beeinträchtige, weil dieser nach alten Vorstellungen noch nicht zur Gänze im Jenseits angekommen ist.
Durch bestimmte Beschwörungen und Rituale versucht dann der Schamane, den Toten aufzufordern von den Lebenden abzulassen. "So etwas ist auch bei uns im Luzerner Hinterland bekannt. Ich kenne selbst zwei alte Männer, die gerufen werden, wenn es bei den Bauern Krankheiten im Stall gibt. Manchmal machen sie dann unerlöste Seelen von Toten dafür verantwortlich, die sie aus dem Stall verbannen", sagt Kurt Lussi.
Mystische Berge
Wie bei den Schamanen im Himalaya so galten früher auch in unseren Breiten manche Berge als heilig. So war es beispielsweise bis ins 16. Jahrhundert strengstens verboten, den Berg Pilatus in der Schweiz zu besteigen. Man nahm nämlich an, dass da oben zahlreiche Zwerge, Drachen und Geister wohnen, die nicht gestört werden dürften. Werden diese Wesen gestört, so drohen schwere Unwetter mit verheerenden Verwüstungen im Tal - so die weit verbreitete Meinung.
"Es konnte also durchaus passieren, dass man nach solchen Katastrophen Menschen, die trotz Verbotes den Berg bestiegen, für die Unwetter verantwortlich gemacht hat", sagt Lussi.
Auf manchen Almen in der Schweiz ist es bis heute üblich, dass der Senner bei Einbruch der Dunkelheit einen Almsegen singt. Darin werden die Jungfrau Maria sowie Heilige angerufen, und um Schutz für Mensch und Vieh gebeten. Der Grund: man glaubt, dass in der Dämmerung die Seelen unerlöster Toter sowie Naturgeister und bösartige Dämonen über die Almen ziehen.
Umfassende Heilung suchen
Mit dem Schamanentum vergleichbar ist auch jene Haltung, mit der man hierzulande einen Wallfahrtsort zum Zwecke der Heilung aufsucht. Hier wie dort geht man davon aus, dass - als Ursache für die Krankheit - die Seele aus dem Gleichgewicht geraten ist.
"Das Ungleichgewicht bzw. die daraus entstehenden Blockaden sieht oder spürt der Schamane mit Hilfe bestimmter Techniken wie der Trance. Er versucht nun, die Seele wieder ins Lot zu bringen", so Lussi. Ähnlich die Haltung der Wallfahrer. Auch sie besuchen einen heiligen Ort, um dort mit Hilfe Gottes vor allem wieder ein seelisches Gleichgewicht zu erlangen.
"Aus alten Gebetbüchern geht eindeutig hervor, dass man einen heiligen Ort zur Gesundung der Seele und nicht zur Beseitigung von körperlichen Symptomen aufsuchen soll", so Lussi, der auch durchaus Parallelen in den Funktionen von Schamanen und Priestern erblickt. "Es gibt Priester, die ein schamanisches Bewusstsein haben, vielleicht ohne es zu wissen. Sie halte ich für die Seelsorger im wahrsten Sinne des Wortes."
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Kurt Lussi, "Lärmen und Butzen. Mythen und Riten zwischen Rhein und Alpen", Luzern 2004, ISBN 3905198819