Die Entwicklung der Rechtschreibung

Vom rechten Schreiben - Teil 1

Mit großem intellektuellen Engagement wird die Rechtschreibung, insbesondere die gesetzliche verordnete "Rechtschreibreform" öffentlich debattiert. Vielleicht lohnt sich ein Blick auf die Geschichte des "rechten Schreibens".

In jenen alten Zeiten der Goethes, Schillers und Kleists (Nennung beispielhaft, ohne diese besonders hervorheben zu wollen) ergab sich das, was man heute "Rechtschreibung" nennt, durch Vereinbarung unter den Schreibenden, genau gesagt, durch konkludente Handlung: Jeder Schreiber beobachtete den anderen, studierte, wie er schrieb, übernahm, was ihm gut erschien, und schrieb anders, wo er glaubte, eine bessere Idee zu haben. Der nächste machte es ebenso. Auf zwanglos-evolutionärem Weg bildete sich so ein Standard, der im Großen und Ganzen eingehalten wurde, der aber auch neue Ideen aufnahm und sich geänderten Anforderungen anpasste.

Das funktionierte zur allgemeinen Zufriedenheit, ja sogar exzellent über viele Jahre hinweg. Es beruhte allerdings auf einer unabdingbaren, leicht zu übersehenden Voraussetzung: Die Schreiber jener Zeit schrieben mit dem definitiven Wunsch, dass das Geschriebene auch gelesen werde. Dieses vorrangige Ziel hielt sie von allzu brachialen orthografischen Eskapaden ab. Diese hätten den Leser irritiert und die Chancen des Texts, gelesen zu werden, reduziert.

Die Administratoren sind schuld
Die Wende trat ein, als ein Beruf erfunden wurde, den ich umfassend als den des "Administrators" bezeichnen möchte. Er tritt uns bis heute in immer zahlloseren Varianten entgegen: als Beamter, aber auch als Manager, Abteilungsleiter, Sektionschef, Direktor, Konsulent, Rechtsanwalt und anderes mehr.

Die Innovation veränderte neben der Welt auch die Wege der Rechtschreibung. Und das kam so: All diese Menschen, und sie vermehrten sich rasant, gingen definitionsgemäß keinerlei produktiver Tätigkeit nach. Der Kern ihres Seins war und ist, nichts zu tun. Jedenfalls nichts, was irgendeinen Sinn oder Nutzen hätte. Darin besteht das Wesen des - damals neuen - Menschentyps.

Nun konnte man die Leute aber nicht den ganzen Tag bloß Kaffee trinken lassen. Das hätte ihrer Gesundheit geschadet (Gefahr des Herzinfarkts) - ganz abgesehen von den dummen, oft schändlichen Ideen, die ihnen in ihrer Muße gekommen wären, und tatsächlich kommen, wie wir aus leidvoller Erfahrung wissen.

Papier ist geduldig
Sie mussten beschäftigt werden, egal wie. Und es drängte sich förmlich auf, sie mit Schreiben zu beschäftigen: Papier ist das Geduldigste auf der Welt. Es ist leicht und billig zu beschaffen. Nämliches gilt für Schreibgerät, damals Bleistift und Federkiel. Schreiben braucht auch Zeit, es ist eine langwierige Tätigkeit, zumal für Ungeübte. Mit läppischen fünf Seiten kann man etwa einen Beamten oder einen Sachbearbeiter für Monate von sonstigen Missetaten abhalten. Kurz: All die nutzlos Untätigen richteten schreibend keinen gröberen Schaden an. Und das zu vergleichsweise vertretbaren Kosten. Die allgemeine Textproduktion wuchs dadurch natürlich sprunghaft - eine Entwicklung, die bis heute anhält.

Für die Rechtschreibung relevant war aber, dass damit die obige Voraussetzung für das großartige System der Goethes und Schillers nicht mehr bestand: Die überwiegende Mehrzahl der Schreiber schrieb keineswegs mit dem Ziel, gelesen zu werden. Allein die schiere Quantität ihres beschriebenen und bedruckten Papiers schloss dies aus. Und angesichts der gänzlichen Sinnlosigkeit der nur zwecks Beschäftigung produzierten Textgebirge wäre es ja abwegig, das auch noch zu lesen.

Wenn aber nun der Schreiber das Gelesen-Werden ohnehin nicht in Betracht zieht, muss er sich auch an keinen Standard halten. Jene bewährte Vorgangsweise funktionierte nicht mehr.

Ein Weiteres kam hinzu: Das ganze Geschreibe war auch jeder Qualitätskontrolle entzogen. All die Administratoren, also Beamte, Juristen, Minister, Gesetzgeber, Revisoren, Lehrer, Kanzleikräfte, Generaldirektoren, Buchhalter, nicht zu vergessen die Heerscharen ihrer SekretärInnen, könnten ihre Blätter gerade so gut mit Hieroglyphen füllen. Mit Runen. Mit was immer. Niemand würde es bemerken.

Kontrolle ist besser
Und so folgte der für die Rechtschreibung entscheidende Schritt: Um zumindest formaliter eine Mindestqualität des Geschriebenen aufrecht zu erhalten, verfiel man auf die Idee, die Orthografie verbindlichen Regeln zu unterwerfen. Auch das lag nahe: Man kann leicht überprüfen, ob sich der Schreiber daran hält. Heute, in der Ära der computerisierten Texterfassung lässt sich das sogar automatisieren. Und vor allem: Es geschieht jenseits des Inhalts.

Hieraus lässt sich sofort und klar das "Erste Grundgesetz der Orthografie" ableiten: Der Bedarf nach geregelter Rechtschreibung steigt direkt proportional mit der Sinnlosigkeit des Geschriebenen. Anders gesagt: Je weniger sinnhaltig der Text, desto größer das Bedürfnis nach geordneten Regeln des Buchstabierens.

So kam die Menschheit zur Rechtschreibung. Und es wundert wohl niemanden, dass sie angesichts des ehernen "Ersten Grundgesetzes der Orthografie" bis heute immer weitere Blüten treibt.