Richard Rohr und seine Weisheitslehre

Von der Unterscheidung der Geister

Der Franziskaner Richard Rohr gilt wegen seiner Kritik an den erstarrten religiösen Institutionen als "spiritueller Unruhestifter". In seinen Lehren zeigt er, wie man sich von der egoistischen Selbstbezogenheit befreit und sich selbst und andere besser erkennt.

Der Franziskaner-Pater über das Enneagramm

Was der Gewissensforschung heute fehlt und eigentlich ihr Fundament sein müsste, ist eine Bewusstseinserforschung, eine nüchterne Analyse der eigenen Persönlichkeitsstruktur: Wer bin ich eigentlich? Wonach strebe ich? Was sind meine Stärken, was meine Schwächen?

Eine Methode, sich selbst und andere besser und tiefer zu erkennen, ist das Enneagramm, sagt der amerikanische Franziskaner-Pater Richard Rohr, der diese Weisheitslehre gemeinsam mit dem evangelischen Theologen Andreas Ebert 1990 mit einem Best- und Longseller im europäischen Raum populär gemacht hat.

Was ist gut, was schlecht?

Jeder Mensch hat sich im Laufe seines Lebens ein System zurecht gelegt, mit dessen Hilfe er erklärt, weshalb das, was er tut, gut und richtig ist. Sicherlich tut niemand willentlich Böses, aber jeder weiß, dass wir uns selbst und einander durch unser Tun verletzen.

Was ist also gut, und was ist schlecht? Manches, was Menschen für schlecht halten, ist potentiell gut. Damit das erkannt werden kann, braucht es das, was die klassische christliche Tradition die "Unterscheidung der Geister“ nennt. Gemeint ist das differenzierte Analysieren von komplexen Strebungen, die möglicherweise dem untrainierten Auge verborgen sind.

Das Enneagramm - ein Weg zur Selbsterkenntnis

Ein Weg, zu dieser Unterscheidung zu kommen, kann das Enneagramm sein, das sowohl christliche wie auch außerchristliche Wurzeln hat. Es unterscheidet neun verschiedene menschliche Seelenstrebungen. Jeweils eine ist bei einem Menschen die dominante und macht sowohl seine Stärke, als auch seine größte Schwäche aus.

Das Enneagramm definiert seine neun Menschentypen von neun "Fallen“ bzw. Hauptsünden her. Mit Sünden sind nicht Einzeltaten, sondern Fehlhaltungen gemeint. Psychologisch kann man sie auch als Notlösungen verstehen, die in der frühkindlichen Phase entwickelt wurden, um mit einer bedrohlichen oder fordernden Umwelt zurecht zu kommen: "Doch je älter wir werden, desto klarer zeigt sich, dass diese Lösungen zu einer Not werden, von der wir erlöst werden müssen“, schreibt Richard Rohr.

Die neun Wurzelsünden

Das Enneagramm kennt neun "Wurzelsünden“. Zunächst sind das die bekannten sieben so genannten "Todsünden“ der christlichen Tradition: Stolz, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Masslosigkeit und Unkeuschheit. Zusätzlich nennt das Enneagramm noch die Lüge und die Furcht.

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Von Süchten abhängig

Das Enneagramm entblößt die größte Stärke und die größte Schwäche eines Menschen. "Sie exponiert unser süchtiges Verhalten“, sagt Richard Rohr. Wir alle haben im Laufe des Lebens eine bestimmte Fixierung entwickelt, die man auch Sucht nennen kann. Nur wollen viele das nicht als Sucht anerkennen, weil sie es zugleich ist, die einen im Alltag erfolgreich macht:

"Die Welt belohnt viele Süchte. Man braucht nur an Arbeit, Macht, Leistung, Erfolgsstreben, Besitzen-Wollen, und vieles mehr denken. Aber wenn man seine Sucht nicht los werden will - und das ist ja gerade die Natur der Sucht - ist man gefangen, ist man abhängig“, sagt Richard Rohr.

Der Einser-Typ Richard Rohr

Zu erkennen, abhängig zu sein, ist demütigend und oft vom Gefühl einer seelischen Leere begleitet. Richard Rohr sieht sein eigenes Leben dafür als ein gutes Beispiel. Der junge Franziskaner hat das Enneagramm im Jahr 1970 über seinen geistlichen Begleiter, einen Jesuiten kennen gelernt. Dieser hat ihm nie gesagt, dass er ein Einser-Typ ist. Aber ihm wurde es ziemlich schnell klar:

"Es war, wie wenn ein großer Bühnenvorhang fällt, und plötzlich haben sich so viele Einzelteile meines Lebens wie in einem Puzzle zusammengefügt. Die Eins z. B. macht immer das Idealistische, das Perfektionistische. Du bist davon getrieben“. Rohr sagt über sich, er habe übersehen, wie viel Ego in seinem idealistischen Engagement verborgen war.

Durch Selbstliebe zur Gottesliebe

"Es geht nicht nur um die Liebe Gottes, sondern die Liebe deines Selbstbildes als das einer perfekten Person. Als ich das bei mir entdeckte, lief ich wochenlang total deprimiert herum. Ich sagte mir: Oh mein Gott, oh mein Gott! Ich bin aus den falschen Motiven ins Priesterseminar eingetreten, habe aus den falschen Motiven die Priesterweihe empfangen, halte den Zölibat aus den falschen Gründen und habe aus den falschen Motiven eine neue geistliche Gemeinschaft gegründet“.

Warum er damals nicht desillusioniert alles hingeschmissen hat? Darauf antwortet Rohr: "Das hat mit der Gnade Gottes zu tun. Denn Gott benutzt selbst nur die zehn Prozent dessen zum Besten, die echt und gut an meinen Motiven waren. Wenn du das entdeckst, verliebst du dich in Gott. Gott bekommt von niemandem etwas Perfektes. Das gilt für alle Enneagramm-Typen“.

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Hör-Tipp
Logos, Samstag, 19. August 2006, 19:05 Uhr

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Links
Claudius Verlag - Die Enneagramm-Erfolgstitel
Das Enneagramm