Bob Dylans musikalischer Meilenstein
Like a Rolling Stone
Ende 2004 führte das weltweit anerkannte amerikanische Musikfachblatt "Rolling Stone" eine Umfrage unter 172 Musikern durch. Bob Dylans "Like a Rolling Stone", das Lied mit dem berühmten Refrain "How does it feel" ging daraus als Sieger hervor.
8. April 2017, 21:58
15. Juni 1965. Studio A von Columbia Records in New York City. Ein Sänger - Cowboy-Stiefel, Jeans, Hemd, Sakko, Zigarette, Sonnenbrille, wirres Lockenhaar, umgehängte Mundharmonika. Er sitzt am Klavier und spielt gedankenverloren einzelne Töne. Es herrscht eine feierliche Stimmung, die allerdings schnell verfliegt, als der Mann seine Stimme erhebt. Zumeist versagt sie oder klingt so, als sei sie gerade "drei Nummern zu klein aus der chemischen Reinigung gekommen". Die Stimmung ist am Tiefpunkt. Doch am nächsten Tag wird der Song aufgenommen. Sechs Minuten, sechs Sekunden: "Like a Rolling Stone"
Gegen die Konkurrenz der Beatles
Vier Wochen später stürmt Dylan mit dem Song die Charts, die von den Beatles und den Rolling Stones beherrscht werden. Der Mann, der bis dahin als Folk-Sänger bekannt war, mischt plötzlich in der absoluten Rock- und Pop-Elite mit. Und das mit einem Song, der sowohl vom Text als auch vom Sound revolutionär ist. Dylan erinnert sich später in einem Interview:
Acht der Songs in den Top Ten waren Beatles-Songs. Ich wusste, dass sie die Richtung vorgaben, in die sich die Musik entwickeln musste. Ich hatte den Eindruck, dass da definitiv eine Linie gezogen wurde. So was hatte es vorher noch nie gegeben.
Dynamische Veränderungen
Wenn man es 1965 in die amerikanischen Charts schaffte, wurde man automatisch Teil einer ungemein dynamischen Welt, die sich oft von Woche zu Woche radikal änderte. Die Top 40 sind Mitte der 60er Jahre ein offenes Forum für Schwarz und Weiß, für Amerikaner und Ausländer, für Nord- und Südstaatler. Und die USA selbst befinden sich in den Startlöchern einer großen Umbruchphase.
1965 ist noch nicht klar, was in Vietnam geschehen wird. Zwei Jahre nach der Ermordung John F. Kennedys steht die stolze Nation nach wie vor unter Schock. Und dann kommen bei Aufständen im Schwarzenghetto Watts in Los Angeles 34 Menschen ums Leben. Für Greil Marcus ein entscheidender Wendepunkt der amerikanischen Geschichte. Man ahnt die 68er-Revolten.
Es schien, als könnte in der Arena des Pop buchstäblich alles passieren, als würde dies auch tatsächlich, Monat für Monat, der Fall sein. Das Wettrennen fand nicht nur zwischen den Beatles, Bob Dylan, den Rolling Stones und all den Übrigen statt, die Welt des Pop befand sich in einem Wettrennen mit der Welt an sich.
Eine Welt, die sich verirrt hat
Was aber macht den Song "Like a Rolling Stone" so einzigartig? Vordergründig geht es um ein gefallenes Mädchen, das sich früher über jene Menschen lustig gemacht hat, zu denen es nun selbst gehört. Kaum ein Inhalt eines Liedes wurde jedoch derart unterschiedlich interpretiert. Der eine glaubt, es handle sich um eine persönliche Abrechnung Dylans mit seiner damaligen Freundin, der andere meint gar, es sei die Band Rolling Stones gemeint.
Greil Marcus findet - so scheint es - die plausibelste Erklärung. Allein die Anfangszeile "Once upon a time..." läge die Märchen-Interpretation sehr nahe. Es gehe um eine Kind, das sich im Wald verirrt hat oder eben eine Nation, eine Welt, die sich verirrt hat. Und Dylan wendet sich eigentlich nicht an dieses unbekannte Mädchen, sondern an uns alle, mit einer Stimme die nuancierter nicht sein könnte: leidenschaftlich, tragisch, zornig, rachsüchtig, schadenfroh, ironisch und aufrüttelnd zugleich. Dylan selbst sieht "Like a Rolling Stone" als seinen großen Durchbruch.
Sechs Minuten Musikgeschichte auf 300 Seiten
Greil Marcus versteht es auf knapp 300 Seiten, etwa sechs Minuten Musikgeschichte bis auf ihre kleinsten Details zu sezieren. Er widmet dem berühmten Trommelschlag, der am Anfang, gleich einem Schuss, den Song einleitet, ebenso viele Zeilen, wie etwa der Interpretation des Songs durch Jimi Hendrix. Der ausgewiesene Dylan-Spezialist Marcus nimmt sich selbst dabei aber sympathischerweise zurück und lässt unzählige "Zeitzeugen", andere Experten und natürlich den Meister selbst zu Wort kommen.
Was klingt wie eine musiktheoretische Abhandlung ist durch die fundierte journalistische Aufbereitung und die anekdotische Untermalung ein spannender Einblick in eine Zeit, als Amerika noch die Chance hatte, sich zum Besseren zu wenden.
Greil Marcus, "Like a Rolling Stone", aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider, Verlag Kiepenheuer & Witsch, ISBN 3462034871