Essays von Wolfgang Müller-Funk
Niemand zu Hause
Wolfgang Müller-Funks Buch versammelt neu verfasste Essays neben aktualisierten Beiträgen, die in den letzten Jahren in Zeitungen, Zeitschriften und Sammelbänden erschienen sind. "Niemand zu Hause" ist trotzdem kein Schwarzbuch Globalisierung.
8. April 2017, 21:58
Die Essays von Wolfgang Müller-Funk kreisen um eines der beherrschenden Themen der Gegenwart: die Globalisierung, sowie ihre Auswirkungen und Erscheinungsformen in den Bereichen Politik, Soziales, aber auch Kultur.
England dient als Fallbeispiel. Hier verschwindet im Neuen Kapitalismus jene Kultur, die historisch untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden war: die bürgerliche.
Jeder Blick in Zeitungen und Medien, jeder Gang durch Englands Zentren in den Städten mit ihren nicht enden wollenden Fastfood-Zeilen, Billigläden, Diskothekenlandschaften, Shopping Areas in postmoderner Fantasiearchitektur zeugt rein äußerlich vom Verschwinden des "very British", wie es KontinentaleuropäerInnen mit Gentleman und Lady, mit Stil und teurer Mode, mit distinguierter Vornehmheit und Tea Time verbinden.
Verfall sozialer Strukturen
Die kulturelle Verflachung oder jedenfalls Vereinheitlichung geht Hand in Hand mit dem Verfall sozialer Strukturen in Großbritannien, von denen man im restlichen Europa immer wieder geschockt erfährt: ein nationales Gesundheitssystem, das älteren Patienten Operationen als unwirtschaftlich verweigert, chaotische und lebensgefährlich vernachlässigte privatisierte Eisenbahnen, und auch - weniger bekannt - ein ausgehungertes und zugleich ökonomisiertes Bildungssystem. Wolfgang Müller-Funk hat diese Entwicklungen aus der Nähe beobachtet: Vier Jahre lang war er Professor in Birmingham.
Wolfgang Müller-Funk spürt in seinen Essays tief verwurzelten und bis heute wirksamen kulturellen Prägungen nach. Er stellt aber auch die Frage, was die immer engere wirtschaftliche Verflechtung, verbunden mit unsicheren Zukunftsaussichten, an Reaktionen bewirkt - an geistigen, kulturellen, auch psychischen.
Abgrenzungsbewegungen
Die Homogenisierung vieler Lebensbereiche bedingt Abgrenzungsbewegungen, Ethnisierung zum Beispiel, das heißt die Überbetonung von Merkmalen wie Hautfarbe oder Religion, aber auch den Wunsch, ja die Sehnsucht nach der schon seit Jahren auffallend beschworenen Heimat.
Heimat und Fremde gelten zumeist als komplementäres Gegensatzpaar. Hier das Vertraute, dort das Unvertraute, hier die Nähe, dort die Ferne, hier das Eigene, dort jenes, das sich jedweder Aneignung zu widersetzen scheint. Aber diese Gleichung geht nicht voll auf und beide Begriffe können in die seltsamsten Querverbindungen geraten: Es gibt womöglich die Empfindung, dass Fremde eine Art von Heimat sein kann, vor allem aber, dass Heimat sehr fremd sein kann. Das Verlorenheitsgefühl, das mit Heimat einhergeht, korrespondiert mit dem Schwindel, das Unbekanntes auslöst.
Politik und Identität
Und Wolfgang Müller-Funk zieht den Schluss, der auch den Titel seines Buchs erklärt, "Niemand zu Hause".
Der Mensch, hier als unser bewusster Teil unserer selbst verstanden - so konstatieren die Psychoanalyse, aber auch die großen Werke der Moderne in Literatur und bildender Kunst - ist nicht bei sich zu Hause.
In einigen dieser Werke der Kunst und vor allem Literatur findet der Kulturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk Bestätigung für eine paradoxe Diagnose: Wir brauchen die Dinge, von denen wir wissen, dass sie vielleicht romantisch verklärte Konstruktionen sind: Zuhause und Heimat - als Gegenwicht zur ebenfalls entweder romantisierten oder im Gegenteil bedrohlichen Fremde. Man kann es, je nachdem, als Schwäche oder Stärke des Buches empfinden, wie hier ganz unterschiedliche Themenbereiche miteinander verbunden werden, von der europäischen Kultur und Philosophie des 19. Jahrhunderts bis zu aktuellen Fragen von Politik und Identität.
Gegenbewegung zur Globalisierung
Politische Strategien, die dem Neuen Kapitalismus entgegensteuern wollen, müssten zumindest in europäischem Rahmen gedacht werden. Doch die Gegenbewegung zur Globalisierung klammert sich zumeist an regionale oder gar lokale Gebiete. Komplizierter ausgedrückt: Wir haben nicht verstanden, dass die symbolischen und realpolitischen Territorien nicht mehr deckungsgleich sind.
Buch-Tipp
Wolfgang Müller-Funk, "Niemand zu Hause. Essays zu Kultur, Globalisierung und neuer Ökonomie", Czernin Verlag, ISBN 3707600629