Erinnerungen von Ernestine Hieger

1945 - Die Evakuierung

Im Rahmen des Themenschwerpunkts Österreich 2005 hat Ö1 in einer Kooperation mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen der Universität Wien mehrere Sendungen konzipiert. Den Auftakt bildet die Ö1 Reihe "Moment - Leben heute".

1944 lernte ich wieder einen Soldaten kennen. Er hatte einen Lungendurchschuss und braucht nicht mehr an die Front. Es war schön, eine Prophezeiung des Arztes, dass ich zum Kinderkriegen geschaffen sei, erfüllte sich. Ich wurde wieder schwanger. Als ich das dem Vater sagte, bot er mir an, sofort für das Kind Geld zu deponieren, denn heiraten kann er mich nicht. Er müsse eine reiche Frau heiraten, sonst würden ihn seine Eltern enterben, und dies könne er bei seinem Gesundheitszustand nicht riskieren. Ich habe gesagt: "Verschwinde, so kommt das Kind nicht zur Welt!“ Aber es ist zur Welt gekommen. Nur er war noch im letzten Monat den Russen in Jugoslawien entgegengesandt worden und ist laut Auskunft des Gerichtes kriegsvermisst.

Wir haben den Ostersonntag 1945. Um sieben Uhr klopft es an meiner Tür. Vor der Tür steht eine Frau der Ortsgruppenleitung; sie teilt mir mit, dass die Russen schon auf den Laaerberg zukommen. Ich könnte eine Schiffskarte haben und mit dem Schiff Wien verlassen - nur Schwangere und Frauen mit Babys. "Ich bin aber kein Parteimitglied“, sagte ich - und sie: "Aber eine deutsche Mutter!“ Das Erste, was ich tat: Ich ging zum Telefon, meine Schwester vaterseits war bei der Flak am Laaerberg. Ich wollte, dass sie mitkommt. Aber es war niemand zu erreichen. Sie kam vom Arbeitsdienst zu den Scheinwerfern. Als ich sie nicht erreichte, besprach ich mich mit den Hausparteien. Was soll ich tun? Was ist mit meinem Buben, wenn bei mir plötzlich die Wehen einsetzen? Zum Schluss ging ich und holte mir die Schiffskarte. Um zehn Uhr wäre Abfahrt von der Fenzlgasse gewesen. Aber es folgten Fliegeralarm, Vorentwarnung, wieder Alarm. Endlich um 14:00 Uhr war es so weit. Das Auto fuhr mit uns zur Reichsbrücke. Es war entsetzlich. Bei der Reichsbrücke, also beim Abfertigungsgebäude, lagen am Boden verwundete Soldaten: Blinde ohne Hände, ohne Füße - am Boden ohne allem. Und die Autos kamen noch und noch. Angelegt hatte ein Lazarettschiff mit einem großen roten Kreuz. Da hinein schleppte man die Elendsgestalten. Dann war das Schiff für die Frauen. Viele Kinder und Frauen waren auch verbunden. Der Luftdruck einer Bombe hatte ihren Autobus umgeworfen. Auf dieses Schiff kam ich mit meinem Kleinen. Zwei Klappstockerl für jeden waren unsere Sitz- und Schlafgelegenheit. Wir hatten ja fast kein Gepäck. Nur ein kleines Kofferl und eine Kinderbett-Tuchent. In dieser hat der Knirpsi immer im Luftschutzkeller geschlafen. Wenn der "Kuckuck“ schrie, dann lief er zuerst zur alten Nachbarin: "Kumm’, Kölla, Stich Donau!“ Und wenn sie sagte, sie gehe nicht, weil ihr Hunderl nicht in den Keller darf, da habe ich ihn in die Tuchent gewickelt, und er ist gleich eingeschlafen.

Es legte dann hinter uns das Schiff "Stadt Wien“ an - auch für Frauen mit kleinen Kindern. Männer durften nicht an Bord. Um 18:00 Uhr fuhr das Lazarettschiff als Erstes ab. Bald darauf folgte unser Schiff. Ich war so erschöpft, dass wir in der Enge gar nicht dachten, dass ein Kind abhaut. Und doch: mein Buberl hat’s geschafft. Als ich wach wurde, war mein Kind weg. Ich sah ihn schon tot in der Donau schwimmen. Da schaute ich hinunter ins Maschinenhaus: Dort lag er auf der Bank und schlief. Ein Matrose hatte ihn beobachtet und ihn zu sich geholt. Am Morgen nahm uns die Frau des Kapitäns zu sich in die Kabine. Vom Lazarettschiff kam die Nachricht, dass Tiefflieger angegriffen hätten. Da entschied sich der Kapitän, täglich von 9:00 bis 15:00 Uhr am Ufer anzulegen, und wir mussten in die Wälder kriechen. Zum Glück war das Wetter schön. Wenn wir standen, wollten immer wieder Soldaten aufs Schiff. Aber der Kapitän ließ es nicht zu; er durfte es ja nicht. So fuhren wir bis Passau. Dort wurden wir ausgeladen, an der Donauuferbahn stand ein Sonderzug für uns bereit. Fliegeralarm! Nun war man sich selbst überlassen. Wir rannten über die Brücke hinauf in den Wald. Zum Glück waren es nur Aufklärer. Mit der Verpflegung klappte es nun auch nicht mehr. Wir fuhren mit dem Zug. Überall, wo wir hätten stehen bleiben können - sofort den Bahnhof räumen: Fliegerangriffe. Es war schon Nacht, da kamen wir am Zielbahnhof an: Schrobenhausen. (...)

Am 12. Juni 1945 kam meine Tochter zur Welt. (...) Im Oktober 1945 kam von den Amerikanern der Befehl, dass die Österreicher zurück müssen, weil die Österreicher haben eine Heimat, in Deutschland aber werden viele Flüchtlinge kommen. (...) Dann wurden wir in Viehwaggons verladen und ab ging’s nach Wien Westbahnhof. Gerade in der Nähe meiner Wohnung blieb der Zug stehen. Ich schaute zuerst, ob mein Haus mit meiner Wohnung noch steht. Der Zug ging nämlich noch weiter nach Wiener Neustadt. Wäre meine Wohnung nämlich nicht gewesen, hätte ich versucht, in die Steiermark zu kommen. Meine Wohnung war tip-top in Ordnung. Alle waren froh, dass ich ihnen vor der Abfahrt gesagt hatte, sie können meinen Herd benutzen.
Wieder zurück - was nun? Der Arbeitsplatz war weg. Wegen Nichtmelden nach dem Krieg im April! Weg waren auch die sozialen Einrichtungen. Wo die Babybetterl im schönsten Raum vom Telegrafenamt gestanden waren, saß nun die Amtsleitung. Von was nun leben? Kinder einsperren, Gelegenheitsarbeiten. Nichts zum Eintauschen. Nichts für den Schleich. Die Amis vergeben die Wäsche zum Waschen. Holz holen in Hütteldorf, bis die Gendarmerie uns verjagt. Die ÖVP vergibt Wahlarbeiten: Plakate an die Wände picken, nur für einen Tag, denn das sei für eine Frau unwürdig. Dafür Zettelaustragen, auch in die oberen Stockwerke. Aber was tut man nicht für zwei Schilling Stundenlohn? Währungsreform. Die Verlage räumen ihre Ladenhüter. Beschäftigungsnachweis - sonst gibt’s keine Lebensmittelkarten. Trotzdem: es geht sich nicht aus! Da gibt’s 110 Schilling gehobene Fürsorge; 20 Schilling ist der Zins. Das Baby schreit vor Hunger; die Nachbarin schreit: "Derschlag, den Bankerten!“

Am Abend mache ich die Kinder besonders schön, schiebe das Bett in die Küche, lege mich, nachdem ich den Gashahn geöffnet habe, zu ihnen. Nur das fürchterliche Zischen des Gases und der Gedanke, was, wenn ich nur allein weg bin, ließ mich das Gas wieder abdrehen.

Ich bekam dann einen Kindergartenplatz, bei der französischen Militärbehörde Arbeit. Dann wurde die Arbeit schon leichter. Für die Amis wusch ich weiter. Durch einen Zufall kam ich drauf, wie uns Frauen ein Wiener betrog. Er bot uns Lebensmittel an, also er sagte uns, wir könnten für einen Teil des Geldes Essen bekommen. Wie viel, davon sprach er nicht. Eines Tages war er nicht anwesend, da verlangte ich den Ami. Der nahm die Wäsche und überreichte mir einen verhältnismäßig großen Geldbetrag. Ich habe natürlich komisch dreingeschaut, da fragte er gleich, ob es zu wenig ist. "Nein, nein“, sagte ich. Also hat uns der Wiener betrogen. Aber bitte, das haben wir noch verkraftet. Als ich aber erfuhr, dass dieser Gauner uns das Essen gegeben hat, dass die Amis auf den Tellern zurückgelassen haben, also Sautrank, da habe ich ihm bis heute alles Schlechte gewunschen. Leider habe ich ihn nicht mehr getroffen, er ist nämlich wegen noch anderer Delikte hinausgeworfen worden.

In den Tagen, wo es noch keine geordneten Verhältnisse gab, hieß es nur Überleben. Nicht, dass man Raubüberfälle beging. Für Gewalttaten sorgten schon andere Herren. Aber so ging ich, nachdem uns die Gendarmerie verjagt hatte, auf den Westbahnhof. Bei uns von der Felberstraße war zum Beispiel ein Eingang zum Frachtenbahnhof. Dort lagerten Berge von glänzender Steinkohle. Bewacht von französischen Soldaten. Es war Glückssache, dass man ein kleines Sackerl Kohle bekam. Manche gaben es sofort, andere wieder nur, wenn man im Wachhäuschen sich hingelegt hätte. Einmal stand ich am Tor, da kam ein Offizier, sah mich mit dem Sackerl unterm Arm dort stehen. Ging er in ein Lagergebäude, wo das Kommando untergebracht war und die Schlafräume waren. Ich bin inzwischen schnell zum Eisenbahner, der das Tor bewachte, ins Häuschen geflüchtet. Mir war es nicht ganz geheuer. Und recht habe ich gehabt. Der Offizier kam mit vier Soldaten zurück, die mit den Gewehren im Anschlag den ganzen Kohlenhaufen umgingen und absuchten. Na, die Alliierten waren ja feige Gestalten!

Einmal, es war kalt und die Straßen vereist, bin ich einen Brief einwerfen gegangen. Nur über die Straße ans andere Hauseck. Ich hatte nur dünne Stöckelschuhe an, es war halb 8:00 Uhr abends. Da kam ums Eck ein Franzose. Angesoffen. Packte mich und sagte, ich muss mitgehen. Ich sagte ihm, er soll zu mir in die Wohnung kommen. Er ging mit, aber ich ging nicht in meine Wohnung, sondern steuerte vom Wieningerplatz kommend in die Wurmsergasse die Polizei an. Als er das Polizeischild sah, haute er mir mit dem Griff eines Hitlerjugenddolches über die Nase, dass ich tausend Sterne sah und blutete. Wir gingen dann zurück, aber ich drückte ihn dann auf die andere Straßenseite. Als ich bei unserem Haustor war, gab ich ihm einen Rempler, dass er auf die Seite taumelte, ich rannte ins Haustor und in eine Wohnung. Er kam nicht nach. Am nächsten Morgen ging ich auf die französische Kommandantur und meldete den Vorfall. Die fragten mich, wie der Soldat heißt - ohne Namen könnten sie leider nichts machen.

Ernestine Hieger wurde 1923 in Donawitz (Steiermark) geboren und übersiedelte anfangs der 1940er Jahre zu ihrer Schwester nach Wien, wo sie bis April 1945 im Telegrafenamt arbeitete. Aus einer Beziehung mit einem Wehrmachtssoldaten, der später fiel, war zuvor ihr erstes Kind hervorgegangen.

Tipp
Wenn Sie selbst Erinnerungen zum Thema dokumentieren möchten, oder jemanden kennen, der dies tun möchte, so wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die solche schriftlichen Geschichtszeugnisse in ihrem Archiv sammelt und wissenschaftlich aufarbeitet. Zu erreichen unter der Wiener Telefonnummer 04277/41306 bzw. per E-Mail.

Buch-Tipps
Irene Riegler, Heide Stockinger (Hg.), "Generationen erzählen.
Geschichten aus Wien und Linz 1945 bis 1955", Böhlau Verlag, ISBN 320577356

Peter Gutschner (Hg.), "Arbeiterkindheit in Stadt und Land", Böhlau Verlag, ISBN 3205989163

Links
Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen
2005.ORF.at