Ein Leben für den Mahatma
Die Frau, die Gandhi liebte
Madeline Slade liebt es schon als Kind, sich mystischen Naturerlebnissen hinzugeben. Als sie zur Frau herangereift ist, gelingt es nur ganz wenigen Männern, ihre leidenschaftliche Zuneigung zu entfachen. Einer davon war Mahatma Gandhi.
8. April 2017, 21:58
Madeline Slade ist die Tochter eines Admirals der britischen Armee. Romain Rollands 1923 erschienene Gandhi-Biografie erweckt ihre Begeisterung für den damals schon über 50-jährigen Freiheitskämpfer. Sie beschließt, sich ihm anzuschließen. Ein Jahr lang bereitet sie sich in England auf ihr neues Leben in Gandhis Ashram vor. Sie übt das Spinnen und gewöhnt sich daran, auf dem Boden sitzend zu schlafen. Im November 1925 trifft sie bei Gandhi ein, der von allen "Bapu" - Vater - genannt wir.
Es gibt zwei überlieferte Darstellungen, dieser ersten Begegnung. In der einen wirft sich Madeline, nachdem sie Bapus Hütte betreten hat, bäuchlings auf den Boden, worauf Bapu von seinem Sitzkissen aufspringt und ihr auf die Füße hilft. Sie an beiden Händen haltend, sagt er zu ihr: "Du sollst meine Tochter sein!" In der anderen Version fällt Madeline beim Anblick Bapus in Ohnmacht.
Jahrzehnte später fragte Richard Attenborough sie im Zuge der Recherchen für seinen großen Gandhi-Film, welche Darstellung der Wahrheit entspreche. "Beide", antwortete sie sibyllinisch.
Sprühende geistige Präsenz
Bereits nach wenigen Wochen möchte Madeline Slade vor Gandhi ein Zölibatsgelübde ablegen, um sich noch intensiver seiner Sache widmen zu können. Gandhi schneidet ihr eigenhändig die Haare und gibt ihr einen neuen Namen: "Mira", der Name einer berühmten indischen Mystikerin.
Es gelingt Mira schrittweise, sich Gandhi anzunähern, wobei sie den Wirkungskreis von Gandhis Frau Kastur Ba, von allen nur "Ba" genannt, überschreitet.
Ba hatte sich stillschweigend damit abgefunden, dass Mira im Bereich der Fürsorge für Bapus persönliches Wohlergehen vieles an sich gerissen hatte. Bapus außergewöhnliche Beseeltheit in der einen Stunde, die Mira jeden Abend mit ihnen beiden verbrachte, war Ba nicht verborgen geblieben. Wann immer Mira da war, nahm Ba an ihm eine sprühende geistige Präsenz war, die effektiv zur Folge hatte, dass er Ba aus seiner Gesellschaft ausschloss, sie aus seinem Denken verbannte, auch wenn ihre Hände noch seine Stirn massierten.
Achterbahn der Gefühle
Der Autor, Sudhir Kakar, gilt als einer der bedeutendsten Psychoanalytiker Indiens. Bei seinem neuen Werk "Die Frau, die Gandhi liebte" - wobei der Titel durchaus in beiden Bedeutungen verstanden werden kann - versucht Kakar eine Gratwanderung zwischen einer Biografie und einem Roman. Es gelingt ihm dabei vortrefflich, sich in die Psyche der jungen Engländerin zu versetzen und die Dynamik der Beziehung zwischen ihr und Gandhi nachzuempfinden.
Madelines jeweiliger Gefühlszustand wird von der momentanen Nähe zu Gandhi bestimmt. Sobald er ihr Gelegenheit gibt, ihm nahe zu sein, ihm zu dienen, blüht sie in hingebender Liebe auf. Doch Gandhi selbst ist verwirrt und unsicher über seine Gefühle und begibt sich immer wieder auf Distanz. Die neun Jahre, die Madeline als seine Gefährtin verbringt, werden so zu einer Achterbahn der Gefühle. Nur mit äußerster Disziplin und Willenskraft gelingt es ihr, sich immer wieder aus der Verzweiflung zu reißen.
Sachbuch oder Roman?
Während Kakar die Seelenlandschaft der Engländerin vortrefflich erforscht, und Gandhis Hin-und-Her-gerissen-sein sehr überzeugend darstellt, gelingt es dem Psychoanalytiker nicht, seine eigene Fabulierlust im Zaum zu halten, was dem Buch sehr schadet. Das klare Psychogramm von Mira und Gandhi lässt Kakar durch das Rankenwerk der Nebenpersonen überwuchern. So wird aus dem - zwar mit formalen Mängeln behafteten - Porträt einer außergewöhnlichen Beziehung ein Dschungel, den man nur mit starkem Interesse an Indien durchdringt
Buch-Tipp
Sudhir Kakar, "Die Frau, die Gandhi liebte", aus dem Englischen von Karl-Heinz Siber, C. H. Beck Verlag, ISBN 3406529127