Blanche Wittmann und Marie Curie

Das Buch von Blanche und Marie

Blanche Wittmann war 16 Jahre lang Assistentin der Physikerin Marie Curie. Zwischen den beiden Frauen hat es - zumindest in Per Olov Enquists Roman - zeitlebens eine merkwürdige Allianz, wenn nicht sogar Liebesbeziehung gegeben.

Eine Frau in heller Bluse und weißem Mieder, der Blick leicht entrückt. Um sie herum eine Reihe seriöser Herren in schwarzen Anzügen, die alle ihre Regungen studieren. Das ist die Blanche, wie sie viele kennen - von einem Bild des französischen Malers André Brouillet.

Blanche Wittmann, die Königin der Somnambulen, wie sie auch hieß, bekannt in jenen Kreisen, die sich dereinst um Prof. Jean-Martin Charcot versammelt haben, dem Begründer der modernen Neurologie. Blanche galt als dessen liebste Patientin. Die Seancen an der Pariser Salpetrière, an denen auch der junge Sigmund Freud teilgenommen hat, waren legendär. André Brouillet hat eine dieser Sitzungen in einem kolossalen Ölgemälde festgehalten.

Lliterarisches Aquarell

Der schwedische Autor Per Olov Enquist hat einen sehr viel feineren Strich. Sein neuer Roman ist ein zart gezeichnetes literarisches Aquarell. Während bei Brouillet die staunenden Herren im Zentrum des Bildes thronen, legt Enquist seinen Blick auf die verzückte Blanche.

Wer war diese Frau? Ihr Leben scheint auf jene Zeitspanne beschränkt, da sie der Wissenschaft als Studienobjekt gedient hat. Per Olov Enquist nimmt ihre Spur nochmals auf, mit der Freiheit des Dichters. Entstanden ist ein biografischer Roman, der zwischen Realität und Fiktion wechselt.

Opfer radioaktiver Strahlung

Paris, im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Als Charcot 1893 stirbt, ist Blanche Wittmann eine blühende junge Frau. Sie gilt als geheilt. 20 Jahre später wird sie tot aufgefunden: Da ist sie nur mehr 102 Zentimeter groß und wiegt 42 Kilogramm. Ein Torso. Man hat beide Beine amputiert und ihr einen Arm abgenommen.

Wodurch Blanche Wittmann so verstümmelt wurde? Sie hat insgesamt 16 Jahre lang als Assistentin der Physikerin Marie Curie gearbeitet. Zusammen führen die beiden Frauen Experimente mit Pechblende durch, um daraus Radium zu isolieren, strahlendes Material. Ein Jahr nach dessen Entdeckung erkrankt Blanche. Sie wird operiert und verliert nach und nach Beine und Arm, ehe man sie 54-jährig zu Grabe trägt. Viele Jahre später kommt auch Marie Curie an den Folgen der radioaktiven Strahlung um, an Leukämie.

In den Mühlen der Konventionen

Zwischen den beiden Frauen, so insinuiert Enquists Roman, hat es zeitlebens eine merkwürdige Allianz, wenn nicht sogar Liebesbeziehung gegeben, die sich nicht nur der gemeinsamen Arbeit verdankt. Auch Marie trägt schwer an ihrem Leben. Ihr Mann stirbt bei einem Verkehrsunfall, die Beziehung zu einem verheirateten Kollegen endet mit einem Desaster. Durch eine Indiskretion kommt das Liebesverhältnis just in jenem Moment an die Öffentlichkeit, da Marie der zweite Nobelpreis zugesprochen wird.

Blanche steht ihr auch in dieser Zeit bei. Auch sie hat ihre Gefühle nie öffentlich leben können. Nach außen hin ist sie immer nur Charcots Patientin geblieben, doch zwischen den beiden ist längst mehr gewachsen. Blanche ist bei ihm, als er stirbt. Sie bleibt allein zurück - ähnlich wie Marie. Beide Frauen sind mit ihren Gefühlen in die Mühlen der Konventionen geraten.

Düsternis und Aufklärung

Per Olov Enquist hat's mit den historischen Stoffen. Seine Bücher leben von der genauen Recherche und machen dann die Türen zu jenen Räumen auf, in denen die Fiktion erst zu leben beginnt. Um Hell und Dunkel, um Düsternis und Aufklärung kreist auch dieser neue Roman.

In "Das Buch von Blanche und Marie" versucht Enquist, die Biografien seiner Hauptfiguren ineinander zu verzahnen, um zu zeigen, wo sie sich berühren und wieder trennen, doch das will ihm nicht recht gelingen. Der Roman zerfällt in kleine Episoden, die sich einfach nicht zu einem Ganzen fügen wollen. Vieles bleibt Geheimnis - und manches wird zur Geheimniskrämerei.

Hinter allem steht der Mensch

In der Wissenschaft ginge es allein um Dinge, nicht um Menschen, hat Marie Curie dereinst bekannt. Per Olov Enquist zeigt, dass es so leicht dann auch wieder nicht sein kann, weil hinter allem, was in den Labors passiert, doch wieder der Mensch steht, mit seinen Gefühlen und seinem Gefangensein in den wechselnden Machtverhältnissen der Liebe.

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Buch-Tipp
Per Olov Enquist, "Das Buch von Blanche und Marie", aus dem Schwedischen übersetzt von Wolfgang Butt, Carl Hanser Verlag, ISBN 3446205691