Tote für die Forschung
Die fabelhafte Welt der Leichen
Ist mit dem Tod alles vorbei? Wir werden es erfahren - wenn wir selbst gestorben sind. Eine Frage können wir allerdings jetzt schon beantworten: Was passiert mit unseren sterblichen Überresten? Mary Roach ist dieser Frage auf erfreulich respektlose Weise nachgegangen.
8. April 2017, 21:58
Das Totsein lässt sich recht gut mit einer Kreuzfahrt vergleichen. Man liegt die meiste Zeit mit ausgeschaltetem Gehirn auf dem Rücken. Der Körper wird allmählich wabbelig. Es tut sich nicht viel, und niemand erwartet etwas von einem.
Stellen Sie sich vor, Sie wären tot! Einfach nur reglos da liegen wäre doch irgendwie eine Verschwendung von Ressourcen, oder? Seit mindestens 2000 Jahren sind Tote teils bereitwillig, teils unwissentlich an den kühnsten wissenschaftlichen Experimenten und sonderbarsten Projekten beteiligt. Sie wurden in einem Pariser Labor ans Kreuz genagelt, um die Echtheit des Turiner Grabtuches zu überprüfen. Und sie ließen sich bereitwillig in Autos anschnallen und in Unfälle verwickeln, um zu beweisen, wie wichtig die Gurtenpflicht ist u.v.m. Um dies alles zu erleben, lassen Leichen viel Blutrünstiges mit sich anstellen.
Die anonymen Toten hinter den Kulissen
Leichen sind im Grunde Superhelden: Sie bieten, ohne mit der Wimper zu zucken, jedem Feuer die Stirn und lassen sich von hohen Gebäuden hinab werfen oder in einem Auto frontal gegen eine Mauer fahren. Ob man auf sie schießt oder mit dem Rennboot auf ihre Beine fährt - nichts bringt sie aus der Fassung.
Allein der Gedanke an derartigen Umgang mit Toten ist für viele Menschen schockierend. Mary Roach stellt schon in der Einleitung klar, dass sie keinesfalls diese Gefühle verletzen möchte. Einen geliebten Menschen zu verlieren, schreibt sie, oder selbst bald sterben zu müssen, sei natürlich alles andere als lustig. Das Buch handle aber vom Tod und nicht vom Sterben. Es geht um die anonymen Toten hinter den Kulissen. Und diese Toten, so die unerschrockene Journalistin, hätten eigentlich nichts Schockierendes an sich.
40 Köpfe in 40 Schalen
Erste Station ihrer morbiden Recherchen ist ein Auffrischungskurs in Gesichtsanatomie und Facelifting, geleitet von den gefragtesten Schönheitschirurgen der USA. 40 Köpfe befinden sind in 40 Schalen auf 40 OP-Tischen, an denen plastische Chirurgen nach exakten Anleitungen Wangenfettpfropfen entfernen oder Nasenverkleinerungen üben.
Für den Laien unerklärlich: Wie schaffen es Ärzte ohne Emotionen an Menschen - und in diesem Fall an toten Menschen - herum zu schneiden? Objektivierung heißt das Zauberwort. Eine junge Praktikantin, die gerade das notwendige Absägen der 40 Köpfe besorgt hat, meint, sie stelle sich einfach vor, die Körper wären aus Wachs.
Historischer Rückblick
Ein detailreicher historischer Rückblick zu den Anfängen der Chirugie strapaziert - je nach Belastungsgrenze des Lesers - den Magen oder die Gänsehaut. In den Operations-Theatern des 19. Jahrhunderts ging es schließlich vornehmlich um die Ausbildung und Demonstration neuer Techniken und weniger darum, dem Patienten eventuell das Leben zu retten.
Nach dem Leitsatz "Wer keine Toten operiert hat, wird die Lebenden verstümmeln" wurden dann aber immer öfter Leichen als Übungsmaterial verwendet. Sie blieben aber zumeist Mangelware. Seinen toten Körper für wissenschaftliche Zwecke zu spenden, stand für die Masse der Kirchgänger nicht zur Debatte.
Wer würde einem Toten, dessen heraushängende Eingeweide den Fußabstreifer volltropfen, das Himmelstor öffnen?
Enthüllte Tatsachen
Natürlich sind die detaillierten Schilderungen von Mary Roach nicht jedermanns Sache. Doch genau diese vor nichts zurückschreckende Methode macht das Buch so spannend. Mit ihren unheimlich genauen Beobachtungen und ihrem nimmermüden Nachfragen enthüllt sie Tatsachen, die Bestattungsunternehmer, Gerichtsmediziner, Chirurgen oder so genannte Verletzungsanalytiker eigentlich gerne hinter den verschlossenen Türen ihrer Institute behalten hätten.
Wer wissen will, ob man tatsächlich platzen kann, wie Nekrophile agieren, warum Männer eher Flugzeugabstürze überleben als Frauen, wie Leichen als Crash-Test-Dummys eingesetzt werden oder ob Körpertransplantationen tatsächlich funktionieren, der wird hier auf höchst unterhaltsame, doch stets fundierte Weise befriedigt. Konsequenterweise überlegt sich Roach im letzten Kapitel auch, was dereinst mit ihrem toten Körper passieren soll. Sie kommt zum Schluss, dass sie ihre Leiche durchaus spenden würde - sehr zur Freude von sezierenden Studenten, wie sie annimmt.
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Buch-Tipp
Mary Roach, "Die fabelhafte Welt der Leichen", aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger, Deutsche Verlags-Anstalt, ISBN 342105584X