Eine ganz normale Familie

Abschied von Chautauqua

Stewart O'Nans Familienroman über den Abschied einer 9-köpfigen Familie plus Hund von einem Sommerhaus zeigt die Gefühlswelt des amerikanischen Mittelstands. Handlung im üblichen Sinn gibt es keine, aber gerade das macht den Roman so stark und überzeugend.

In Stewart O'Nans 700 Seiten starkem Familienroman über den Abschied einer neunköpfigen Familie plus Hund von einem jahrzehntelang genutzten Sommerhaus am Lake Chautauqua im Staat New York kommt niemand um, es passieren keine Katastrophen, es passiert eigentlich gar nichts an diesen sieben Augusttagen, deren Chronologie dem Buch die Kapitelordnung vorgibt: von Samstag, dem Anreisetag, bis Samstag, dem Abreisetag; von morgens Frühstück bis abends gemeinsames Grillen. Und gerade diese Ereignisarmut, die ihr Pendant in einer scheinbar unliterarischen, alltäglichen Sprache hat, wurde von der Kritik als besondere Qualität des Romans hervorgehoben.

Warten, dass irgendwas passiert

Das Buch gibt seinen Reiz und seine exakt kalkulierte Anlage erst nach und nach preis. Man mag anfänglich noch etwas genervt sein ob der detailgenauen Schilderung alltäglicher Verrichtungen, aber mit fortschreitender Lektüre beginnt man zu verstehen: Das gehört alles dazu, nicht nur das, all diese vermeintlichen Nebensächlichkeiten sind die Hauptsache. Unser gespanntes Warten darauf, dass endlich irgendetwas passiert, ist eine Illusion; wie es eine Illusion ist, vom Leben entscheidende Veränderungen zu erwarten. Davon handeln die Gespräche zwischen Lisa und Meg, zwei Frauen um die 40, Müttern von zwei pubertierenden Töchtern, Ella und Sarah, und zwei jüngeren Söhnen, Sam und Justin.

Die Katastrophen, der Tod und ein möglicherweise an einer Tankstellenkassiererin begangenes Verbrechen liegen außerhalb der erzählten Geschichte. Das ist ein weiterer Kunstgriff dieses handwerklich so perfekt gebauten Romans: Henry, als Vater und Großvater das Oberhaupt der Familie, ist vor einem knappen Jahr gestorben. Seine Frau Emily und seine Schwester Arlene kommen über seine Abwesenheit nicht hinweg. Der Roman kreist um dieses leere Zentrum, das natürlich nicht leer ist, sondern erfüllt von Erinnerungen an Gesten, an Sätze des Verstorbenen, an seine Werkbank im Keller und seine Zurückgezogenheit.

Jedem seine Perspektive

Stewart O'Nan beschreibt eine amerikanische Mittelstandsfamilie, in deren literarischer oder filmischer Beschreibung amerikanische Schriftsteller und Regisseure immer schon gut waren. Das bedeutet, auf die Konstellation Vater - Sohn bezogen, dass weder Henry noch Ken starke Figuren waren bzw. sind.

Dass die Lektüre nicht versandet, sondern ständig an neuer Fahrt gewinnt, liegt am zentralen Kunstgriff O'Nans: Jedes Kapitel gibt die Perspektive eines anderen Familienmitglieds wider, auch Rufus, dem Hund, dem buchstäblich immer zum Kotzen ist, widerfährt erzählerische Gerechtigkeit. Der Erzähler enthält sich dabei wertender Kommentare und so ist uns einmal Emily in ihrer Trauer sympathisch, dann wieder fürchterlich unsympathisch in ihrem Kontrollwahn; einmal finden wir Ken ganz in Ordnung, doch dann geht er auch uns auf die Nerven. Nach und nach wird klar: Es passiert eigentlich jede Menge, so viel eben, wie in unsere durchschnittlichen Leben hineinpasst an Glücksmomenten und Unglück.

Atmosphärische Dichte

"Abschied von Chautauqua" gelingt es, Atmosphäre nicht als Dekor zu verwenden, sondern aus den Farben und Gerüchen, den zahlreichen Gesprächen und alltäglichen Verrichtungen ein überzeugendes Panorama des amerikanischen Mittelstands erstehen zu lassen. Egal, ob man Familien mag oder nicht, Spezialisten sind wir hier alle. Vielleicht deswegen vergeht die ereignisarme Woche am Lake Chautauqua in der Lektüre so überraschend schnell.

Buch-Tipp
Stewart O' Nan, "Abschied von Chautauqua", übersetzt von Thomas Gunkel, Rowohlt Verlag, ISBN 3498050346