Der Doktor ist ein anderer

"Intime Fremde"

Wie schon in Filmen wie "Die Verlobung des Monsieur Hire" und "Der Mann der Friseuse" entwirft Patrice Leconte mit seinem Film "Intime Fremde" ein vielschichtiges Spiel rund um geheime Wünsche und Begierden - und eine Verwechslung.

Anna macht intime Bekenntnisse. Beim falschen Doktor?

Auf eine Verwechslung folgt im Kino meist eine Komödie, die sich einen Film lang Zeit nimmt, um alle Missverständnisse aufzuklären. Auch am Beginn von Patrice Lecontes Film steht ein Irrtum. Die junge Anna (Sandrine Bonnaire), eine Frau mit Eheproblemen, meldet sich bei einem vermeintlichen Psychiater, um dort intime Bekenntnisse abzulegen. Allzu intim für einen Steuerberater (Frabrice Luchini), der vorerst irritiert, aber bald schon fasziniert ist von der bizarren Verwechslung.

Psycho-Drama und Thriller

Im Gegensatz zu einem üblichen Lauf der Dinge klärt Regisseur Patrice Leconte die Situation rasch auf, denn an einer Komödie ist er primär nicht interessiert. Auch wenn die Sache einer gewissen Ironie keineswegs entbehrt. Ist der Steuerberater vielleicht doch der bessere Psychoanalytiker? Patrice Leconte geht dieser Frage in einem fortgesetzten Besuchsritual nach und verbindet dabei Charakterporträts mit einem Psycho-Drama und den rätselhaften Zügen eines Thrillers. "Tatsächlich hat mich Hitchcock ein wenig geleitet", meint Regisseur Leconte, "vor allem, weil die Figur der Frau rätselhaft und mysteriös ist, weil man nicht weiß, was sie will."

Latent erotisches Begehren

Krawatte und dunkler Anzug, Zahlen und Bilanzen, altmodisches Büro und ebensolche Wohnung im Büro. Ein allzu sicheres, aber langweiliges Junggesellenleben führt der Steuerberater, der an seiner Einsamkeit still leidet, sie aber trotzdem liebevoll kultiviert, etwa durch das Sammeln von altem Spielzeug. Doch so unterschiedlich die Charaktereigenheiten zwischen dem Steuerberater und seiner seltsamen "Kundschaft" auch sein mögen, so lustvoll ist deren gegenseitige Entdeckung, stets angetrieben von latent erotischem Begehren. Das Spiel zwischen Lüge und Wahrheit wird zum schwebenden Verfahren, in dem immer neue Spekulationen die Spannung aufrechterhalten. Hat Anna vielleicht absichtlich den falschen Doktor aufgesucht?

Subtile Komplizenschaft

Patrice Leconte ist ein Meister der subtilen Andeutung und Komplizenschaft, nicht nur in den Dialogen zwischen seinen beiden Hauptfiguren, sondern auch in der Beziehung zu seinem Kinozuseher. Mit ein wenig Phantasie findet man sich selbst schnell beim Steuerberater im Kino wieder. Verwundete Seelen sind Patrice Leconte jedenfalls einmal mehr zu wertvoll, um sie vordergründigen Kinokonventionen preiszugeben.

Intime Fremde
Confidences trop intimes
Frankreich, 2004
Mit: Darsteller Sandrine Bonnaire, Fabrice Luchini u. a.
Drehbuch und Regie: Patrice Leconte