Ein Situationsbericht über die Ausländerproblematik

Die Niederlande und die Zuwanderer

Ein halbes Jahr nach dem Mord am islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh sind in den Niederlanden die ethnischen Gewaltausbrüche und der Schrecken darüber vorbei. Dennoch ist die Frage geblieben: Was ist falsch gelaufen?

Der Soziologe Paul Dekker über die momentane Situation

Mit dem Mord an dem Regisseur Theo van Gogh im November vorigen Jahres und den darauf folgenden Ausschreitungen militanter Islamisten, aber auch radikaler holländischer Rechtspopulisten ist das Polderland zum Schauplatz ethnischer Gewalt geworden, die die Gesellschaft, die holländische wie auch die der vielen Migranten, in tiefe Ratlosigkeit stürzte.

Mittlerweile ist das Beben etwas abgeflaut, doch immer noch wird darüber diskutiert, wie man dem Thema Integration bestmöglich begegnet.

Die Woche der Eskalation

Der Anlass: Das mörderische Attentat auf den islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh. Der Täter: Mohammed Bouyeri, 26-jähriger Sohn marokkanischer Eltern mit holländischem Pass. Die Folgen: Kirchen, Moscheen und Schulen brennen. Mehr als ein Dutzend Übergriffe von fanatischen Moslems, aber auch von organisierten Rechtsradikalen. Es herrscht Ausnahmezustand.

Nach der Verhaftung bekennt sich der junge Moslem zur Tat. Sein Bekennerschreiben strotzt nur so vor Abscheu gegen die Gesellschaft, in der er groß geworden ist. Genau diese Gesellschaft erstarrte nach dem Mord an dem umstrittenen Regisseur in ungläubigem Schock. Wie konnte das passieren?

Was war falsch gelaufen?

Theo van Gogh, ein bekennender Fan des ermordeten Rechtspopulisten Pim Foruyn, war bekannt für seine islamkritische Haltung; seine Äußerungen in dem Zusammenhang waren alles andere als diplomatisch. Die Imame, die sich einem eventuellen Kopftuchverbot an den Schulen widersetzten, nannte er "Ziegenficker“, den Religionsgründer Mohammed einen "pädophilen Vergewaltiger“. Auch für seine Judenwitze war der grobschlächtige Mann bekannt. Mit seinem Film "Submission“, in dem halbnackte Frauen mit tätowierten Koranversen und Misshandlungsspuren auf der Haut vorkommen, stieß er die moslemische Gemeinschaft in den Niederlanden endgültig vor den Kopf. Der Politikwissenschafter Jos de Beus von der Universität Amsterdam über seine Erinnerungen an den streitbaren Filmemacher:

"Manche sagten damals, van Gogh sei ein Meister der freien Meinungsäußerung. Andere wiederum argumentierten, wenn man diese freie Meinungsäußerung als Waffe gegen traditionell denkende Menschen einsetzt, dann schafft man ein Problem. In diesem Land leben fast eine Million Moslems neben 16 Millionen Nichtmoslems. 70 Prozent dieser Moslems sind traditionelle Gläubige, 30 Prozent versuchen sich anzupassen und an einer neuen, eigenen Identität zu arbeiten. Und ein paar hundert sind Radikale. Die offene Frage nach dem Mord sowohl in der Gesellschaft der Migranten als auch unter den Holländern war: Wer ist denn nun der Feind?“

Die Auswirkungen des 11. September

Begonnen hatte die Krise der multikulturellen Gesellschaft in den Niederlanden schon Jahre vorher. Nach dem 11. September 2001 gerieten auch die Moslems in Holland unter Erklärungsdruck, und als im darauf folgenden Jahr der Rechtspopulist Pim Fortuyn die politische Bühne betrat, platzte aus den Leuten heraus, was sie offenbar lange unterdrückt hatten: Es wurde salonfähig, laut und mit grober Sprache über die holländische Einwanderungspolitik nachzudenken.

Nach seiner Ermordung im Mai 2002 wuchs Pim Fortuyn in der Erinnerung vieler Holländer endgültig zur verklärten Heldenfigur. Auch durch die massiven Sparprogramme der Regierung fühlten sich viele dazu legitimiert, den Migranten die Schuld für diverse Miseren zu geben.

Religiöser Konflikt?

Bei der Forschung nach den Hintergründen der Integrationskrise stellt sich u. a. auch die Frage: Ist der Konflikt ein religiöser? Der Soziologe Paul Dekker dazu: "Sie haben keine Angst davor, Gewalt zu verwenden, ihre Mitmenschen einzuschüchtern. Und selbst wenn es nur ein paar hundert sind - und das ist die niedrigste Schätzung - kann es extrem gefährlich werden. Auch Multikulturalität kann nicht funktionieren. Die Moslems haben entschieden, dass es im Hauptland des Islam, in Saudi-Arabien, nur eine Religion geben darf, eben den Islam. Der Islam lehnt Multikulturalität selber ab. Diese Multikulturalität ist eine Fantasie von manchen Politikern und Journalisten, in Wirklichkeit existiert sie nicht".

Im Büro von "mexit“, einer Organisation, die versucht, der Amsterdamer Stadtregierung mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, ist man da anderer Meinung. Man könne doch nicht alle Moslems in einen Topf werfen, meint der Leiter Mustafa Baba: So wie einerseits zwei Prozent Verrückte, egal ob von links oder von rechts, nicht die Meinung in diesem Land vorgeben können, könne man auch andererseits die Äußerungen Theo van Goghs nicht tolerieren. Man könne auch nicht 300.000 holländische Marokkaner nach Marokko zurückschicken. Es gelte, schrittweise andere Lösungen suchen, zum Beispiel die Situation moslemischer Frauen verbessern oder überlegen, was man mit den vielen Jugendlichen mache, die keine Arbeit fänden. Die moslemischen Jugendlichen suchten auch nach Antworten, wie man seine Religion ausleben könne, auch wenn man nicht in Marokko, Saudi-Arabien oder Ägypten lebe.

Integration zum Scheitern verurteilt?

"Die Immigranten fühlen sich unsicher und unbeschützt. Manche denken laut darüber nach, in ihre Heimat zurückzukehren, etwa in die Türkei", sagt Jos de Beus. Auch wenn Pim Fortuyn nicht von einem Moslem, sondern von einem radikalen Tierschützer umgebracht wurde, so hat seine wie natürlich auch die Ermordung Theo van Goghs die moslemische Gemeinschaft stark verunsichert, bestätigt auch Paul Dekker vom sozialen Kulturplanungsamt, einem Forschungsinstitut der holländischen Regierung. Aber auch die Holländer fühlen sich unsicher, sie fragen sich beispielsweise, was in den Schulen vor sich geht, vor allem in den Großstädten, wo die Immigranten bereits die Mehrheit stellen.

Scharfe Asylpolitik prolongiert

Die Niederlande scheinen gespalten. Die einen eher Linksgerichteten plädieren für ein friedliches Zusammenleben aller und für alle notwendigen Schritte, die dafür gesetzt werden müssten. Für die anderen Konservativen gibt es in Wahrheit keine Multikulturalität und gab es sie auch nie wirklich.

Tatsache ist, dass der Geist Pim Fortuyns nach wie vor über dem Land schwebt bzw. seine Ideen zum Thema Asylpolitk längst in die Politik der regierenden Mitte-Rechts-Regierung eingeflossen sind. Holland gilt heutzutage europaweit als das Land mit den schärfsten Fremdengesetzen In den kommenden zwei Jahren sollen 26.000 Asylwerber, deren Anträge abgewiesen wurden, in ihre Heimatländer zurückgeschoben werden - eine umstrittene Entscheidung der aus Christdemokraten, Rechts- und Linksliberalen bestehenden Regierungskoalition.

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