Von Astralreisen bis Zombies
Das Lexikon der Großstadtmythen
Immer wieder tauchen Halbwahrheiten, Verschwörungstheorien und Gerüchte auf; Geschichten, die "drei klassische Elemente einer Sage und somit einer guten Story" vereinigen. Knapp 150 solcher Geschichten referiert Bernd Harder in seinem neuen Buch.
8. April 2017, 21:58
Busenstarren hält Männer fit; Kurzsichtigkeit kann man wegtrainieren; Großstadtkanäle beherbergen Alligatoren; Tampons sind asbestverseucht; in Einmachgläsern werden Bonsaikatzen gezüchtet; im Döner-Sandwich können tödliche Würmer lauern, Blutgruppen sind genetisch bedingten Verhaltensweisen zugeordnet und ein gutes "Qi", stimuliert durch Spiegel, Bambusflöten und Windspiele, garantiert Wohlbefinden im Hause. Was so oft gehört, geglaubt oder gefürchtet wurde, kann doch nicht unwahr, was so oft erzählt, kein Hirngespinst sein? Oder etwa doch? Knapp 150 solcher unglaublichen Geschichten listet Bernd Harder in seinem Buch auf.
Gerüchte und Schauermärchen
Ob im Bereich der Medien oder der Medizin, der Wissenschaft oder der Technik, des Alltags oder der Religion: Unsere Gesellschaft ist keineswegs so wissenschaftsgläubig und faktenverliebt, wie oft behauptet wird, sondern durchaus anfällig für Gerüchte und Schauermärchen. Da wird von Astronautengöttern erzählt und von UFO-Verschwörungen, da wird vom Amityville-Horror gemunkelt, wird die Geistchirurgie propagiert oder die so genannte Hildegard-Medizin gepriesen, da ist vom Bibel-Code die Rede und vom Jesus-Klon, von Poltergeistern und Waldpropheten, von Yetis, Zombies oder Nessies - nicht nur bei kleinen Kindern, die zu viel Fernsehen schauen.
"Großstadtmythen" sind für Harder nichts anderes als Legenden, Wandersagen oder Internet-Gerüchte, Wahnvorstellungen und Phantasiegebilde, gewachsen auf dem Humus unverstandener Ereignisse und unverarbeiteter Gefühle. Sie kreisen um Abenteuerlust, Habgier und Schadenfreude, um Ressentiments und Vorurteile. Einmal in die Welt gesetzt, sind Großstadtmythen kaum mehr zu kontrollieren. Sie lassen sich selten zurückverfolgen auf einen Urheber und erweisen sich als erstaunlich resistent gegenüber Fakten und Argumenten. Großstadtmythen basieren oft auf Wandersagen, die eine frappierende Eigendynamik entwickeln.
Die Macht des Irrationalen
"Urban Legends", "urbane Legenden" wie man Großstadtmythen auch nennen kann, sind Geschichten, die von magischen Naturkräften, von der Macht des Irrationalen und vom Glauben an das Außerirdische handeln, von Rache, Strafe und Vergeltung für Unvorsichtigkeit, Bequemlichkeit und Hybris. Da wird, den Legenden zufolge, vergnügungssüchtigen Diskogängern (ohne dass sie es merken) eine Niere geraubt, da sollen Menschen mit einem "Zombie"-Pulver zu willenlosen Sklaven gemacht werden, oder Großkonzerne mit ihren Gewinnen die "Satanskirche" unterstützen. Rätselhafte, ja alptraumartige Geschichten, die nur schwer zu überprüfen sind. Dass ihnen nur Gutgläubige auf den Leim gehen, ist ein Gerücht.
Bernd Harder ist Sagen, Mythen und Gerüchten nachgegangen, die in den Medien kursierten und kursieren - und schließlich einer Organisation beigetreten, die sich "Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung der Parawissenschaften" nennt: ein gemeinnütziger Verein mit rund 700 Mitgliedern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, darunter Mediziner, Physiker, Soziologen, aber auch Trickexperten.
Mal ernst, mal ironisch
Bernd Harders "Lexikon der Großstadtmythen" profitiert von der jahrelangen Arbeit des Autors im Dienst der kritischen Aufklärung, die sich auch in Büchern niederschlug über Astrologie und Satanismus, über Nostradamus oder Padre Pio. Sein "Lexikon der Großstadtmythen", das sich durchaus unterhaltsam liest, nimmt die geschilderten parawissenschaftlichen Phänomene zunächst einmal ernst, referiert sachlich und knapp, freilich nicht ohne ironischen Unterton, den vermeintlichen Sachverhalt, um dann mit Bezug auf vorhandene Quellen der Sache auf den - faulen - Grund zu gehen. Ein verdienstvolles, weil auf gründlichen Recherchen und facettenreicher Auswahl basierendes Kompendium also, das durchaus empfehlenswert ist.
Buch-Tipp
Bernd Harder, "Das Lexikon der Großstadtmythen. Unglaubliche Geschichten von Astralreisen bis Zombies", Eichborn Verlag, ISBN: 3821855576