Dieses unsägliche Wort
Der "Anschluss" Österreichs
Ach, Anschluss! Dieses unsägliche Wort! Irgendetwas daran ist verlogen. Man weiß es und setzt es in Anführungszeichen. Bekundung gespürter Skepsis? Steckt nicht im Anschluss, semantisch gesehen, schon etwas Imperialistisches?
8. April 2017, 21:58
Ich frage mich, warum die deutsche Wehrmacht eigentlich einmarschiert ist in Österreich? 1938, am 12. März. - Als Österreicher müsste ich das natürlich wissen. Aber ich weiß es nicht. - Aber das weiß man doch! - Ja? - Die Österreicher wollten es! - Ach so. Alle? - Naja, man muss das natürlich in einem größeren Zusammenhang sehen! - In welchem? - Nun, das Land lag doch völlig am Boden, wirtschaftlich, politisch und überhaupt: "Heim ins Reich!", man kennt doch die Bilder: Hitler am Heldenplatz in Wien!
Ich hab dann den "Ploetz" zu Rate gezogen, "Hauptdaten der Weltgeschichte": "Seyß-Inquart, Schuschniggs Nachfolger (als österreichischer Bundeskanzler) fordert deutsche Truppen an". Steht im "Kleinen". Was steht denn im "Großen"?: "Einmarsch deutscher Truppen in Österreich nach vorausgegangenem Ultimatum und Rücktritt des österreichischen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg. Übernahme der Regierung durch Arthur Seyß-Inquart." - Also was nun: "Einmarsch nach vorausgegangenem Ultimatum"? Was wurde denn von Österreich verlangt, ultimativ? Und mit welchem Recht? Oder aber: Einmarsch, weil Seyß-Inquart deutsche Truppen angefordert hat? Wann denn? War er da überhaupt schon österreichischer Bundeskanzler?
Antagonismus von Geist und Macht
Wie kam ich denn überhaupt auf dieses Thema? Auf Umwegen natürlich. Schon Jahre her! IG Farben! Monowitz! Das Chemiewerk bei Auschwitz. Mit eigenem KZ für ihre Arbeitssklaven. Einer von ihnen: Fritz Löhner-Beda. Kabarettist, Schriftsteller, Präsident der Hakoah, des jüdischen Fußballvereins in Wien. Nach dem Anschluss, nein, der Annexion (siehe unten!): Dachau, Buchenwald (wo Löhner das Buchenwald-Lied schreibt, Musik: Hermann Leopoldi), Monowitz. Dort kommt er ums Leben. - Das Schicksal von Löhner-Beda! Und das der vielen anderen, die fliehen mussten, vertrieben wurden, verschleppt, erschlagen, hingerichtet. Warum? Weil Österreich besetzt wird! - Vielleicht zu verkürzt. Weil das Deutsche Reich Angst hat. - Wovor? - Der Antagonismus von Geist und Macht! - Meint was? - Der Geist gefährdet die Macht! Muss eliminiert werden! Die geistige Elite, die jüdischen Intellektuellen, die Vernunft! - Der Anschluss: Österreichs Aderlass!
"Der Rest ist Österreich"
Wie kam er denn überhaupt auf, der Begriff "Anschluss"? - Als Folge des Ersten Weltkriegs! "Der Rest ist Österreich", dekretiert Frankreichs Premier Clemenceau, 1919, als die Monarchie aufgeteilt wird. Der deutschsprachige Rest! "Deutsch-Österreich" will er sich nennen. Hält sich aber nicht für lebensfähig. - Sich mit anderen Ländern zusammenschließen? An das Deutsche Reich anschließen? - Versailles schiebt dieser Absicht einen Riegel vor. Deutschland nicht wieder groß werden lassen! Und der Friedensvertrag von St. Germain-en-Laye diktiert Österreich das Anschlussverbot und die Untersagung des Namens "Deutsch-Österreich".
"Republik Österreich" heißt der neu geschaffene Staat. Freilich nicht lange. Dollfuß' Austrofaschismus wird die "Republik" schnell wieder abschaffen.
Vom Anschluss zur Annexion
Die österreichischen Nationalsozialisten, und nicht nur sie, scheren sich freilich nicht um das Verdikt. Der Anschluss an das Deutsche Reich bleibt ihr politisches Ziel. Eine Wende bringen erst Hitlers Machtergreifung und der Naziputsch in Wien. Österreichs Bevölkerung, das Terror-Regime in Deutschland vor Augen, will jetzt in ihrer Mehrheit in einem selbstständigen Österreich leben, frei und unabhängig. Der Anschluss-Gedanke aber geistert weiter durch das Land. Nur, jetzt hat er eine ganz andere Konnotation bekommen: Eroberung, Invasion, Besetzung!
Von Annexion wäre jetzt zu reden. Was Hitler vorhat, ist eine Annexion, die gewaltsame und widerrechtliche Aneignung fremden Staatsgebiets. - Schnee von gestern, alles? - "Zeitgeschichte kann sich nicht mit der reinen Darstellung zufrieden geben, wie etwas gewesen ist, sie will wissen, wie es dazu kommen konnte" (Harry Pross: "Vor und nach Hitler")!