Forscher dürfen alles was sie wollen
Der Menschenversuch - Teil 2
Im Nationalsozialismus kumuliert Forscherdrang und mörderische Menschenverachtung. Das Dritte Reich bot Medizinern etwas bis dahin Einmaliges: statt Laborratten konnten sie hunderte, ja tausende Menschen zu Versuchszwecken benutzen.
8. April 2017, 21:58
Wenn man die Menschenverachtung der NS-Ärzte betrachtet, muss man sich zwei Dinge vor Augen führen: Die Vorstellung, dass in den Konzentrationslagern minderwertige Menschen leben würden. Dazu kommt der Status des Versuchs in der Naturwissenschaft. Die Ärzte kommen gar nicht auf die Idee, dass Versuche ethisch verwerflich sein könnten.
Forscher dürfen alles, was sie wollen - ist die Maxime. Der Einfallsreichtum der Mediziner ist groß: es wird mit Giften, mit Viren, Munition, mit Tbc oder Gasbrand experimentiert, es gibt Ernährungsversuche und vieles mehr.
Die militärische Zweckforschung
Die meisten Menschenversuche in den Konzentrationslagern dienen der militärischen Zweckforschung. Ein Name findet sich immer wieder in den Akten: Dr. Sigmund Rascher. Er wird in der Literatur als "Monster der Medizin" beschrieben. Die Luftwaffe testet im KZ Dachau die Belastbarkeit und die Lebensdauer von Fliegern in sauerstoffarmer Luft und bei niedrigem Druck. Eine weitere Versuchsreihe untersucht die Ursachen des Kältetodes, weil zahlreiche Flieger über dem Ärmelkanal abgeschossen wurden und im kalten Wasser starben.
Der Stabsarzt Dr. Sigmund Rascher schlägt vor im Konzentrationslager Auschwitz einen großen Reihenversuch zu starten:
Zitat aus einem Bericht an Heinrich Himmler: "Auschwitz ist für einen derartigen Reihenversuch in jeder Beziehung besser geeignet als Dachau, da es dort kälter ist und durch die Größe des Geländes im Lager selbst weniger Aufsehen erregt wird. (die Versuchspersonen brüllen, wenn sie sehr frieren)."
(aus dem Buch von Ernst Klee: Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, Fischer Taschenbuch Verlag)
"Das, was Rascher dort tut, hat mit wissenschaftlichem Wert nichts zu tun", sagt der Medizinhistoriker Rolf Winau aus Berlin. Die Versuche werden nach 1945 nicht mehr publiziert oder benutzt.
Die Schaffung von Lebensraum im Osten
Die Versuche in den Konzentrationslagern werden unter anderem mit der Gewinnung von Lebensraum im Osten begründet. Carl Clauberg tut sich besonders hervor. Er entwickelt eine neue Methode zur operationslosen Unfruchtbarmachung "minderwertiger Frauen", wie es in den Akten heißt.
Getragen von dem Gedanken, dass der Feind nicht nur besiegt, sondern auch vernichtet werden müsse - bei gleichzeitiger Erhaltung seiner Arbeitskraft. Die Methode ist bestialisch und äußerst schmerzhaft. Den Frauen wird eine formalinhaltige Lösung in die Gebärmutter gespritzt, die zu einer massiven Entzündung führt und vernarbend abheilt.
Innerhalb der Ärzteschaft gab es keine ethische Diskussion nach diesen Auswüchsen ärztlichen Forschungsdranges. Auch beim Nürnberger Ärzteprozess war ganz schnell klar, dass mit dem Hippokratischen Eid - "dem Patienten nützen und nicht schaden" - niemand zu verurteilen war. Die Anklage musste anders formuliert werden: Verbrechen gegen die Menschlichkeit und nicht Übertretung ärztlicher Ethik.
Download-Tipp
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Buch-Tipps
Ernst Klee, "Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer", Fischer Taschenbuch Verlag 2004, ISBN 3596149061
Alexander Mitscherlich, Fred Mielke, "Medizin ohne Menschlichkeit", Fischer Taschenbuch Verlag 2004, ISBN 3596220033