60 Jahre danach

Hiroshima

Auch 60 Jahre nach dem ersten Einsatz der Atombombe wird die Frage nach dem Warum nach wie vor kontroversiell diskutiert. Florian Coulmas gelingt es hervorragend aufzuzeigen, welche Kräfte einer objektiven Betrachtung des Ereignisses immer noch entgegenstehen.

Welchen Platz hat Hiroshima heute im Gedächtnis der Völker? (...) Noch immer gibt es Siegergeschichte und Verlierergeschichte. Japans Hiroshima ist nicht Amerikas Hiroshima. (...) In Japan kann man das Ereignis nur aus der Opferperspektive erzählen, in den USA nur aus der der Täter, die man dort freilich nicht so nennt, impliziert "Täter" doch nicht allein eine Tat, sondern eine schuldhafte Tat und hier scheiden sich die Geister.

Hiroshima, so Florian Coulmas in seinem Buch, werde in Amerika als bedauerlicher Bestandteil eines gerechten Krieges erinnert. Bis heute glauben viele Amerikaner an diese Rechtfertigungsthese: Die Atombomben seien ein adäquates Mittel gewesen, das militaristische Japan zur Kapitulation zu zwingen, den Krieg zu beenden und damit Tausende Leben zu retten. Dass dafür Hunderttausende Zivilisten sterben mussten, ist ein Zynismus, der auch 60 Jahre danach noch sprachlos macht.

Japan wiederum konnte sich nach 1945 wegen Hiroshima und Nagasaki stets auf seine Opferrolle berufen und damit eine Aufarbeitung der eigenen Verbrechen und Gräueltaten in Asien hintanstellen.

Erinnerung ist nicht jedem zumutbar

Beide Verhaltensweisen zeigen sich u. a. an den Orten und der Art der Erinnerung, wie Coulmas sehr spannend schildert: Das Smithsonian Institute in Washington wollte 1995 eine Ausstellung machen, in der gemeinsam mit der restaurierten Enola Gay auch Gegenstände aus den Atombombenmuseen von Hiroshima und Nagasaki zu sehen sein sollten: ein geschmolzener Rosenkranz, ein Marienbild, ein Kinderkleid. Das war der amerikanischen Seele nicht zuzumuten. Die Angelegenheit ging bis in den Kongress. Was übrig blieb, war der restaurierte Rumpf der Enola Gay.

Dass es erst in den 50er Jahren, nach Ende der amerikanischen Besatzung, überhaupt möglich geworden war, in Hiroshima eine Gedenkstätte zu errichten und sich mit Hiroshima auseinanderzusetzen, ist ein weiterer Aspekt in den komplizierten Beziehungen.

Ab September 1945 griff die amerikanische Zensur. In Japan durfte nicht einmal die Tatsache, dass Atombomben abgeworfen worden waren, erwähnt werden, geschweige denn, was sie angerichet hatten.

Reflexion in der Literatur

Vor diesem Hintergrund blieb nicht nur die Berichterstattung, sondern auch die literarische Erinnerung an die atomare Vernichtung beschränkt. Literatur, die Hiroshima und Nagasaki thematisierte, wurde marginalisiert, ähnlich, wie die Atombombenopfer selbst. In einem höchst interessanten Kapitel über die Atombombenliteratur stellt Florian Coulmas die einschlägigen Werke bekannter Schriftsteller wie Masuji Ibuse oder Kenzaburo Oe vor und jene derer, die hierzulande unbekannter geblieben sind, wie Takashi Nagai. Dessen "Glocken von Nagasaki" gehört zum Kanon der Atombombenliteratur.

Die Bücher von Ibuse, Oe und Nagai, die hier stellvertretend für andere genannt wurden, haben viel dazu beigetragen, der Auslöschung Hiroshimas und Nagasakis einen Platz im kollektiven Gedächtnis der japanischen Nation und ein wenig darüber hinaus zu sichern. Die Werke sind so unterschiedlich wie ihre Autoren und ihre Beweggründe. Was sie miteinander verbindet, ist, dass sie zu einem abgeschlossenen Genre gehören, das nicht mehr fortgeschrieben wird.

Zum Symbol geworden

Was noch 60 Jahre danach ganz unfassbar erscheint, sind die Reaktionen vieler intellektueller Zeitzeugen. Coulmas hat sich Tagebuchaufzeichnungen von Thomas Mann, Gertrude Stein oder Berthold Brecht angesehen und erschreckendes Desinteresse, Sprachlosigkeit, ja Zynismus herausgelesen. Fazit: Obwohl die neue Dimension der Zerstörung unmittelbar ersichtlich war, wurde diese keineswegs zu einem beherrschenden Thema des intellektuellen Diskurses in der Nachkriegszeit.

Bis heute jedenfalls wird Hiroshima als Symbol herangezogen - ob in Berichten zu 9/11 oder zu den amerikanischen Folterungen im Irak. Bis heute lässt sich am Beispiel Hiroshima aufzeigen, dass der Kampf um und über die Geschichte noch nicht vorbei ist.

Buch-Tipp
Florian Coulmas, "Hiroshima", C. H. Beck Verlag, ISBN 3406527973