Semiologe und Kulturtheoretiker

Das Reich der Zeichen

Roland Barthes zählt zu den unkonventionellsten Intellektuellen Frankreichs im 20. Jahrhundert. Sein Schaffen war äußerst facettenreich. Wesentlich für ihn war die Körperlust, die mit der "Lust am Text" eine symbiotische Verbindung einging.

Roland Barthes entzog sich jeder wissenschaftlicher Kategorisierung. Er verknüpfte Theoriesegmente des Marxismus, des Strukturalismus und der Psychoanalyse. Er verfasste eigenwillige Text über Mode, Fotografie, Film, Kochkunst oder die Liebe. Er schrieb über den Genuss von Beefsteak, den Stadtplan von Tokio oder den Dandy.

Bei all den Aktivitäten vergaß er nie auf seinen Körper; wesentlich für ihn war die Körperlust, die mit der "Lust am Text" eine symbiotische Verbindung einging.

Ein begabtes und sensibles Kind

Um die extravagante Theorieproduktion von Barthes besser zu verstehen, ist es notwendig, einen Blick auf seine Biografie zu werfen. Geboren wurde er am 12. November 1915 in Cherbourg, verlor als Einjähriger seinen Vater, wuchs dann in bescheidenen Verhältnissen in Bayonne, später in Paris auf.

Er galt als begabtes, sensibles Kind, mit einer engen Mutterbindung, die sein gesamtes Leben anhielt. Kurz vor dem Abitur erkrankte er an Tuberkulose, die sein Leben zehn Jahre lang prägte. Das Gefühl der Ausgrenzung war das bestimmende Lebensgefühl, das sich auch trotz späterer Kontakte zu französischen Intellektuellen nicht mehr auflösen sollte.

Nach seiner Rekonvaleszenz übte Barthes verschiedene Tätigkeiten in Kulturinstitutionen aus und fand Zugang zu Pariser Intellektuellenkreisen. Er befasste sich mit dem Marxismus, setzte sich mit dem Denken von Jean-Paul Sartre auseinander und fand Gefallen an den Theaterstücken von Bertolt Brecht. 1953 erschien sein erstes Buch "Am Nullpunkt der Literatur". Zentraler Begriff darin ist die "écriture", die Ottmar Ette mit Schreibweise übersetzt.

Bedeutungssysteme der Massenkultur

Barthes leidenschaftliches Interesse für die "écriture" führte ihn schließlich zur Semiologie, zu der Wissenschaft vom Zeichen, die der Genfer Sprachwissenschafter Ferdinand de Saussure begründete. Im Gegensatz zu de Saussure, der seine Zeichentheorie auf dem Gebiet der Sprache entfaltete, erfuhr die Semiologie bei Barthes eine Erweiterung. In seinem Buch "Mythen des Alltags" konzentrierte er sich auf Bedeutungssysteme der Massenkultur wie Nahrung, Kleidung oder Kino und benützte die Semiologie als Kritik des Alltagslebens.

Die eher spielerische Beschäftigung mit den trivialen Alltagsmythen wich einem jahrelang anhaltenden Interesse an der wissenschaftlich orientierten Semiologie, die als Strukturalismus den Zeitgeist bestimmte. Es ging um die Frage, ob Strukturen die Lebensweise und Bedeutungssysteme der Menschen bestimmen.

Faszinierende Zeichenwelt

Eine Reise nach Japan beendete Barthes "asketische strukturalistische Phase", die in seinem Buch "Die Sprache der Mode" abzulesen ist. In Japan lernte er eine faszinierende Zeichenwelt kennen. "Das japanische Zeichen ist leer", so notierte er, "der Ort des Zeichens wird nicht auf seinen institutionellen Gebieten gesucht". Die Eindrücke der Japanreise fanden ihren Niederschlag in dem Werk "Das Reich der Zeichen", das jedoch nicht als konventioneller Reisebericht verstanden werden darf.

Diese Leere der Zeichen steht völlig im Gegensatz zur rationalistisch geprägten Sprache, die Barthes in seiner Antrittsvorlesung am College de France als "faschistisch" bezeichnet hatte.

Der Lehrstuhl für Literatursemiologie an einer der renommiertesten universitären Einrichtungen Frankreichs bedeutete die Anerkennung des akademischen Außenseiters Barthes. Er zählte nun zu der Elite der französischen Intellektuellen, gleichberechtigt mit dem Ethnologen Claude Levi-Strauss, dem Psychoanalytiker Jacques Lacan und dem Ideenhistoriker Michel Foucault.

Als Gegenmodell gegen eine Sprache, die zum Sagen zwingt, entwarf Barthes eine neue Semiologie, die sich nicht als Reproduktion eines "Diskurses der Überheblichkeit" versteht. Sie beruft sich vielmehr auf eine "Lust am Text" - so lautet auch der Titel des gleichnamigen Buches.

Annäherung an die Avantgardeliteratur

In seinen späten Jahren interessierte sich Barthes immer weniger für die Konventionen des akademischen Betriebs. Seine Texte entfernten sich immer mehr von den üblichen wissenschaftlichen Werken und näherten sich immer mehr der zeitgenössischen Avantgardeliteratur eines Alain Robbe-Grillet oder Michel Butor an. Das erste Dokument dieser Entwicklung war sein Buch "Über sich selbst".

Noch weiter ging Barthes in seinem Buch "Fragmente einer Sprache der Liebe", das 1977 erschien. Es wurde sogar ein intellektueller Bestseller und verhalf Barthes zu einer bisher nicht gekannten Publizität.

Sein letztes Buch "Die helle Kammer" mit dem Untertitel "Bemerkung zur Photografie" war dem Andenken seiner vielgeliebten Mutter gewidmet, die im Jahre 1979 verstarb. "Was ich verloren habe". so schrieb er, "ist das Unersetzliche": Den Tod seiner Mutter im Jahre 1979 überlebte Barthes nicht lange. Am 26 März 1980 verstarb er in Paris an den Folgen eines Verkehrsunfalls.

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Roland Barthes, "Mythen des Alltags", Suhrkamp, ISBN 3518100920

Roland Barthes, "Das Reich der Zeichen", Suhrkamp, ISBN 3518110772

Roland Barthes, "Fragmente einer Sprache der Liebe", Suhrkamp, ISBN 3518380869

Roland Barthes, "Die helle Kammer", Suhrkamp, ISBN 3518381423