Isegrim hat keine Chance
Zähne zeigen
Ein Negativ-Image ist schwer loszuwerden: Der Wolf ist eindeutig kleiner als ein Bär, dennoch verbreitet er einen viel größeren Schrecken. Liegt es am Teddy, dass wir dem brummigen Braunen mehr Sympathie entgegenbringen als dem Stammvater aller Hunde?
8. April 2017, 21:58
"Jetzt ist schon wieder etwas passiert." Mit dieser Eröffnung hat noch jeder Haas-Krimi begonnen. Sein Vorname Wolf passt ganz gut zum lakonischen Charakter seiner Bücher und zur Schlitzohrigkeit seines Trägers. Auch Wondratschek hört auf den Vornamen Wolf. Er talkt lieber mit Domenica über sexuelle Hörigkeit, als mit Feuilleton-Kritikern über Literaturästhetik. Einige finden ja, der Name sei das Beste an diesem Möchtegern-Literatur-Desperado. Christa und Ror wiederum haben den Wolf im Nachnamen, beide mehr Schafspelz als Wolf. Keine Beleidigung, soll nur ihre Sanftheit betonen.
Der Wolf im Schriftstellernamen, ob vorne oder hinten, ist alles andere als ein Nachteil, gibt dem Namen etwas Verwegenes. Auch aus der Mythologie kennen wir Wölfinnen, die Menschenkinder säugen, dennoch reißt der Wolf seit dem Mittelalter ein Negativ-Image auf, das seinesgleichen sucht.
Kein willkommenes Comeback
Der Wolf ist eindeutig kleiner als ein Bär, dennoch verbreitet er einen viel größeren Schrecken. Liegt es am Teddy, dass wir dem brummigen Braunen mehr Sympathie entgegenbringen als dem Stammvater aller Hunde?
Beide Beutegreifer sind im Vormarsch. Ein paar Bären treiben sich schon ganzjährig in Österreich herum, wenn sie nicht gerade auf Winterschlaf sind. Zur Freude mancher Wildbiologen dringt nun auch der Wolf in Europa in Regionen vor, in denen er einst ausgerottet war. Sein Comeback wird nicht allseits begrüßt, im Gegenteil, Isegrim leidet eindeutig unter seinem "Imageproblem". In Meyers Konversationslexikon von 1888 wird der Wolf als "ungemein blutrünstig" beschrieben, "er würgt viel mehr, als er fressen kann."
Überlebenskünstler
Erst als sich einige Biologen in die unwirtlichen Gegenden aufmachten, in denen diese intelligenten Tiere heute noch in nennenswerter Zahl existieren, änderte sich das Bild vom bösen Wolf. Ein Tier mit bemerkenswertem Sozialleben wurde entdeckt, ein Überlebenskünstler schier unglaublichen Ausmaßes. Warum sollte es nicht auch in unseren Wäldern ein Plätzchen für das eine oder andere Rudel geben. Doch die Märchen vom Wolf, der Kreide frisst und sich die Tatze färbt, um die Geißlein täuschen und vernaschen zu können, oder jenes Isegrims, der Rotkäppchen samt Großmutter verschlingt - seine sprichwörtliche Gefräßigkeit im Reich der Märchen und Legenden, sie ist gut verankert in den Köpfen der Menschen. Solche Vorstellungen lassen sich nur schwer überwinden. Und dennoch, der Wolf schien auf einem guten Weg: Immer mehr Menschen neigten zu der Ansicht, diesem großen Beutegreifer auch in unseren Breiten eine Chance zu geben.
Und dann das: In Zentral- und Ostanatolien haben hungrige Wölfe das getan, was sie angeblich so gut wie nie tun: Sie haben Menschen angegriffen und dabei ein Kind getötet. Aus dem faszinierenden Stammvater aller Hunde ist mit einem Mal wieder Isegrim geworden, die fresswütige Bestie.
Für die Fürsprecher des wölfischen Comebacks ein harter Schlag. Wer will etwas vom strengen Winter, mangelndem natürlichen Nahrungsangebot und den schwindenden Rückzugsgebieten des Hetzjägers hören, wenn Menschen, gar Kinder, zu Schaden kommen.
Rückzugsinseln werden rar
Könnte der anatolische Wolfshunger auch in anderen Gegenden ausbrechen? In Indien gibt es Anzeichen dafür. Die dort lebende, eher kleine Unterart hat wohl aus ähnlichen Gründen wie die Wölfe in der Türkei die Jagd auf Menschen begonnen. Auch dort nimmt die Zahl der natürlichen Beutetiere ab. Außerdem drängt die wachsende Bevölkerung in jene Gebiete vor, die bis vor kurzem noch dem Überlebenskünstler als Rückzugsinseln dienten. In dieser Auseinandersetzung kann nur das Tier den Kürzeren ziehen, auch wenn es noch einmal und vermutlich zum letzten Mal seine scharfen Zähne zeigt.