Neue Wege in der chilenischen Bildungspolitik

Auf dem Weg zur Zweisprachigkeit?

Nur wenige sprechen in Südamerika Fremdsprachen. Um so sensationeller ist Chiles Entschluss, zweisprachig zu werden. Doch Lehrer in "normalen" Schulen sind schon froh, wenn alle Schüler halbwegs Spanisch lernen. Ein Drittel sind funktionelle Analphabeten.

Jorge Pavez zu Chiles Analphabetismus

Nur mit Bildungspolitik ist Unterentwicklung zu überwinden - diese Meinung herrscht bis heute in den Ländern der Dritten Welt. Doch meist steht nur den Kindern der Oberschicht der Weg zum Wissen offen, weil nur sie die hohen Gebühren der Privatschulen aufbringen können. Die chilenische Regierung geht einen neuen Weg.

Englisch öffnet Türen

Der chilenische Bildungsminister hat verkündet, sein Land in die Zweisprachigkeit zu führen, "Englisch öffnet Türen“, so Sergio Bitar. Schon bald sollen alle Chilenen fließend Englisch, neben der Muttersprache Spanisch, beherrschen.

Heute können sich nur drei Prozent in Englisch ausdrücken. Für ein Land, das sich den großen Sprung auf den Weltmarkt vorgenommen hat, viel zu wenig. Nach den Worten von Bitar soll Englisch neue Arbeitsplätze bringen, auch für die unteren Bereiche der Gesellschaft. Callcenter multinationaler Firmen sollen entstehen, der Tourismus blühen.

Das Projekt der Zweisprachigkeit ist eine Sensation in Südamerika. Bisher gab es nur eine kleine gesellschaftliche Elite, in der Fremdsprachen gesprochen werden - jene Elite, die ihre Kinder auf teure Privatschulen schickt. In Zukunft - so der Minister - sollen auch öffentliche Schulen schon in den unteren Klassen Englisch lehren.

Skepsis seitens der Lehrerschaft

Kritiker halten das Projekt der Zweisprachigkeit für eine Luftblase. Der Vorsitzende des Lehrerverbandes in Chile, Jorge Pavez, ist jedenfalls skeptisch:: "Zweisprachigkeit ist eine Utopie! Das hat nichts mit der Realität zu tun! Selbst in der achten Klasse kann niemand Englisch reden. Sie verstehen einen Gruß, aber können sich nicht unterhalten".

Für Jorge Pavez wäre es auch wichtig, Portugiesisch zu unterrichten: "Wir reden ständig von der Integration Amerikas. Wir könnten doch unsere indigenen Sprachen vermitteln: die Sprache der Mapuche oder Aymara. Wenn wir uns schon für Englisch entscheiden - wie soll denn dieses Vorhaben in der Praxis durchgeführt werden?“

Funktionale Analphabeten

Die meisten Pädagogen wären froh, wenn alle Kinder ihre Muttersprache einwandfrei lesen und schreiben könnten, wenn sie die Schule verlassen. Doch das chilenische Bildungssystem produziert immer mehr "funktionale Analphabeten“, statt den großen Traum aller Entwicklungsländer zu erfüllen: die Überwindung des Analphabetismus und die Vermittlung von Bildung, gerade für die Armen.

Sehr viele Personen haben einmal lesen und schreiben gelernt, aber es nicht mehr praktiziert und es daher verlernt. Sie können vielleicht noch einige Worte mühsam lesen. Aber um sich in dieser Konkurrenzgesellschaft zu behaupten, bedarf es mehr, als nur ein paar Begriffe buchstabieren zu können. Aber das wird nicht gelehrt. Diese Leute kaufen auch keine Zeitungen, einmal weil sie zu teuer sind, andererseits weil sie auch nicht verstehen, was dort gedruckt ist. Sie informieren sich über das Fernsehen: Talkshows, Quiz-Sendungen, Unterhaltung aller Art. Informationsprogramme sind meist nur über Kabel zu empfangen. Aber wer schon die Kochanleitung auf der Rückseite eines Brühwürfels nicht begreift, durchschaut auch nicht die Hintergründe der nationalen, geschweige denn der internationalen Politik. Am politischen Leben nehmen diese Menschen nicht teil.

Das chilenische Bildungssystem

Seit Mai 2003 hat die chilenische Regierung ein Gesetz verabschiedet, dass allen chilenischen BürgerInnen das Recht auf eine zwölfjährige kostenlose Schulbildung garantiert. Die Bildungseinrichtungen sind teilweise staatlich kontrolliert, teilweise dezentralisiert und teilweise in privater Hand. Die Kontrolle und Finanzierung obliegt dem Bildungsministerium.

Mehr als 40 Prozent der SchülerInnen der Grund- und Mittelstufe besuchen Privatschulen, bei den Studierenden sind knapp 50 Prozent an privaten Hochschuleinrichtungen eingeschrieben. Private Einrichtungen erhalten teilweise staatliche Förderung, teilweise finanzieren sie sich aus dem Schulgeld, das die Eltern für die Ausbildung ihrer Kinder bezahlen. Dies führt natürlich dazu, dass Kindern aus der Unterschicht der Zugang zu Privatschulen verwehrt bleibt, weil sie das Geld nicht aufbringen können.

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