Ein kurz gefasster Bildungsroman

Wie ich ein Klassiker wurde

Anweisungen aus J. A. Bergks Schrift "Die Kunst, Bücher zu lesen" aus dem Jahr 1799, veranlassen den Kolumnisten, an seine Schulzeit zurückzudenken, als Deutschlehrer Literaturlisten für die Matura verlangten. Zwanzig Bücher, dachte er, würden nicht zu viel sein.

Erstens:

Der Leser muss ein Buch wie ein geschickter Künstler behandeln, der an seinen Stoffen so lange arbeitet und bildet, bis er ein herrliches Werk daraus gemacht hat.

Zu einer Zeit, in der die Weltkarriere des österreichischen Musikers Falco sich abzuzeichnen begann, an einem Ort, an dem nie jemand vom Kultursender Ö1 gehört hatte, dafür umso mehr von der A2, der Südautobahn, weil einigen Grundbesitzern, die den Ausbau bis zur Grenze blockierten, die Enteignung angedroht worden war, zu dieser Zeit war das Bildungsniveau der Schulpflichtigen keinem Medium eine Schlagzeile wert. Retrospektiv betrachtet kann ich sagen: Es war unter jeder Sau, zumindest an den Ufern von Gail und Drau. Aber das war ja auch die Zeit, in der so genannte Berufsberater regelmäßig die Mittelschüler langweilten und jedem, der einen halbwegs geraden Satz zu formulieren imstande war, eine Tätigkeit in der Medienbranche nahe legten. Glänzende Zukunft! Soso! Heute stellen sich viele von denen, die der Prognose Glauben schenkten, um Sozialhilfe an. Oder sie arbeiten für tausend Euro fulltime.

Zweitens:

Alles Lesen muss die Auferweckung unserer Kräfte abzielen, und wir müssen uns in den Stand setzen, jedes Buch, das Erscheinungen des menschlichen Geistes enthält, so viel als möglich in uns wieder zu erneuern, welches vorzüglich der Zustand ist, wo wir an Kultur und Kenntnissen am meisten gewinnen.

In der achten Klasse des Gymnasiums verlangte der Deutschlehrer von uns eine Literaturliste. Zwanzig Bücher, dachte er, würden wir im Lauf unseres Lebens ja schon gelesen haben. Er irrte sich, denn nur zwei Schüler erreichten das Limit. Einer wurde später Redakteur der Kleinen Zeitung. Der andere war ich, aber ich war ja als passionierter Schulschwänzer und Sitzenbleiber auch zwei Jahre älter als der Rest. Außerdem hatte ich im Alter von sechzehn Jahren im Geschäft eines dichtenden Papierwarenhändlers zur Literatur gefunden, ohne über Literatur Bescheid zu wissen. Ich las Böll und Hesse, Handke und Borchert, Musil und Camus, Sartre, Calvino und Solschenizyn, ich las kreuz und quer, verstand vieles nicht, den Existenzialismus etwa, bekam aber ein Gefühl dafür, was einen guten von einem schlechten Text unterscheidet, wie man mit Sprache die Wirklichkeit durchdringen und diese manchmal auch dingfest machen kann, wie Literatur Erkenntnis herstellen kann. Ich war betrunken von Literatur, und es war mir egal, ob mir das im wirklichen Leben nützte oder nicht.

Drittens:
Die Lektüre darf kein Betäubungsmittel unserer Kräfte, sondern ein Reiz für ihre Tätigkeit sein.

Mein Sitznachbar zum Beispiel teilte meine Leidenschaft nicht. Er vermochte die Vorgabe des Deutschlehrers nicht zu erfüllen, auch wenn er sämtliche Reclam-Hefte, die er zu Hause finden konnte, ins Treffen führte. Er versuchte es sogar mit dem Trick, sämtliche Kurzgeschichten, die in einem solchen Heftchen versammelt waren, als einzelne Buchtitel anzuführen, aber so dumm war der Lehrer auch wieder nicht. Konsequenzen gab es keine, denn viele Eltern liefen Sturm gegen die vermeintliche Schikane. Ihre Söhne, meinten sie, hätten schließlich Besseres zu tun, als Bücher zu lesen. Der Lehrer resignierte und nahm bei der Matura augenrollend zur Kenntnis, dass Brecht ein Barockdichter sei und Goethe ein Expressionist.

Viertens:
Das Lesen soll uns frei und mündig machen, und vielen dient es bloß zur Zeitkürzung und zur Erhaltung von dem Zustande einer ewigen Unmündigkeit.

Natürlich ist es Unfug, in einer solchen Situation die Lektüre von Klassikern einzufordern. Das Entdecken von Literatur hat mit der Entdeckung der eigenen Persönlichkeit zu tun. Elias Canetti soll als Kind schon Shakespeare gelesen haben, Sartre berichtet Ähnliches. Es stimmt schon, beide wurden später für den Nobelpreis auserkoren, aber daraus eine Regel abzuleiten halte ich für wenig zielführend. Hätte sich nicht zufällig der schrullige Papierhändler in unseren Ort verirrt, dann wäre die Literatur an mir abgeprallt wie die Fächer Physik, Chemie und Nachmittagsturnen. Die Heranführung junger Menschen an die Literatur über die Klassiker, also Goethe, Schiller, Herder, Grillparzer, Novalis etc. heißt den Gaul von hinten aufzuzäumen. Der Pfeil der Zeit muss in die entgegen gesetzte Richtung abgeschossen werden: zuerst die Gegenwart entdecken, und dann die Herkunft.

Fünftens:
Wir müssen alles Lesen auf unser Ich beziehen und es im Verhältnis zu demselben betrachten.

Ich spreche aus eigener Erfahrung: Wenn man jung ist, hat man keinen großen Ehrgeiz. Man weiß ja nicht, wohin mit seiner Energie, also bleibt sie in einem eingeschlossen und bläht sich auf wie Maisstärke im heißen Ölbad. Wenn man jung ist, ist man unförmig in einer uniformen Umgebung, man legt sich mit den Erziehungsberechtigten an und bietet der Welt die Stirn, weil man weiß, dass man nichts über die Welt weiß und nie genug über sie wissen wird, um sie zu verändern. Wenn man jung ist, will man die Welt verändern, man weiß aber nicht, was die Welt ist, weil man immer nur einen ganz kleinen Ausschnitt von ihr sieht, und selbst den hält man für manipuliert. Wenn man jung ist, weiß man, dass die Medien und die Politik, die Schule und die Kulturindustrie die Welt manipulieren. Wie sie das machen, weiß man natürlich nicht. Man ahnt ja, dass man dumm gehalten wird, um möglichst wenig zu wissen. Wissen macht ehrgeizig. Ahnen macht ängstlich. Wenn man jung ist, hat man Angst. Man übt sich in Dissidenz, schaut sich Filme an, die erst ab 18 Jahren zugelassen sind, klaut Fahrräder, schluckt unerlaubte Substanzen, schwänzt die Schule, beschädigt öffentliches Eigentum. Wenn man jung ist, hält man das Leben für einen Roman. Für einen ziemlich komplizierten Roman, und es ist einem egal, ob Faust das Gretchen unter Zuhilfenahme des freien Knittelverses flach legt oder nicht.

Sechstens:
Wir müssen über jeden Stoff, den wir bearbeiten, die Oberhand zu gewinnen suchen, und wir müssen herrschen, so viel Schwierigkeiten auch zu besiegen sind.

Als ich eine Zeit lang Bücher gelesen hatte, in denen ich mich selbst fand oder die mir denken halfen, wurde ich neugierig auf Bücher, die ich weit außerhalb meines Erfahrungshorizont ansiedelte. Ich wollte aber wissen, ob es Erfahrungen über die Zeiten hinweg gibt, literarische Long-time-companions. Ich las Goethes Wilhelm-Meister-Romane, Joseph von Eichendorffs "Aus dem Leben eines Taugenichts", die phantastischen Romane von E.T.A. Hoffmann, den "Grünen Heinrich" von Gottfried Keller, ziemlich viel Stifter und Kleist. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich durchwegs blendend unterhalten habe, aber das ist bei großer Literatur fast immer der Fall. Ich habe aber erfahren, dass es ein Menschsein und ein Reflektieren über dieses Menschsein gibt, das dem menschlichen Denken über Epochen, Moden und politischen Systemen hinweg immanent ist.

Siebentens:
Das öftere Waschen des Gesichtes mit kaltem Wasser, der Genuss einer freien reinen Luft usw. erhalten unsern Geist munter und machen ihn stets zu neuen Anstrengungen geneigt.

Als ich im Gymnasium eine Klasse zum zweiten Mal wiederholte - ich war 17 Jahre alt -, sagte am ersten Schultag der Biologielehrer zu mir: Zimmermann, du musst ja auch schon um die dreißig sein! Bis zur Matura wurde ich von vielen Mitschülern immer wieder mit diesem Satz begrüßt. Nun war ich also selbst zu einem Klassiker geworden.