Dichtung und Wahrheit der Erinnerung

Der Schleier der Erinnerung

Das neue Buch des Historikers Johannes Fried ist eine groß angelegte und sehr ambitionierte Studie, die die fehlende Zuverlässigkeit von Zeugen zum Anlass nimmt, eine grundsätzliche Methodenrevision der Geschichtswissenschaft einzufordern.

"Mein Buch will eigentlich die methodischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft vertiefen und erweitern", sagt Johannes Fried. "Mir ist aufgefallen, dass zahlreiche Erinnerungen sachlich falsch sind: Es werden falsche Personen erinnert, falsche Zeiten, falsche Orte, falsche Umstände usw. Die Historiker haben oftmals diese falschen Erinnerungen wörtlich genommen und sich auf sie verlassen. Durch Gedächtniskritik kann man zeigen, dass dies ein nicht berechtigtes Verfahren ist."

Erinnerungen sind falsch

"Alles, was sich bloß der Erinnerung verdankt, hat prinzipiell als falsch zu gelten", lautet das Credo von Frieds methodologischem Skeptizismus. Erinnerte "Tatsachen" sind dabei umso mehr in Zweifel zu ziehen, je weiter die Ereignisse zurückliegen und je spärlicher die Zahl der Zeugen oder Zeugnisse ist.

Die Geschichte ist geprägt von Irrtümern, Verdrängungen, falschen Schlussfolgerungen, sagt Fried. Ob die Geschichte der "Konstantinischen Schenkung", die Kaiserkrönung Karls des Großen oder die Königserhebung Heinrichs "des Voglers": Nichts war, wie es zunächst schien. Statt mit Fakten haben wir es mit "historischen Implantaten" zu tun, mit Scheinrealitäten, Pseudoerinnerungen, im Nachhinein konstruierten Episoden, die einem offenbar elementaren Bedürfnis nach schlüssigen Interpretationen geschichtlichen Geschehens entspringen.

Menschliches Grundbedürfnis

Fried hat die methodischen Grundlagen seines Fachs kritisch hinterfragt und sich in anderen Disziplinen umgesehen, um das Funktionieren des Gedächtnisses zu begreifen. Aufschlussreich für seine Grundlegung einer Gedächtniskritik, einer "historischen Memorik", wie er das nennt, waren dabei die Erkenntnisse der Ethnologen, aber auch die der Ethologen, der Verhaltensforscher, und nicht zuletzt die der Neurophysiologen und Neuropsychologen.

"Das, was ich von den Kognitionswissenschaften gelernt habe, ist, dass wir es hier mit einer menschlichen Grundbedingung zu tun haben", so Fried. "Wir können uns gar nicht stabil erinnern - vermutlich, weil wir kontinuierlich auf sich ändernde Weltverhältnisse reagieren müssen."

Die Wahrheit des Augenblicks

Jede Wahrnehmung sei situationsgebunden, jede Erinnerung kontextabhängig. Was wir daher zu fassen bekommen, sei nie die Wahrheit des ursprünglichen Geschehens, allenfalls die des "erinnernden Augenblicks", sagt Fried. Schuld daran sind die Verformungskräfte des Gedächtnisses, die Wahrnehmungen bzw. "Erinnerungsbilder" prägen.

Alle historischen Tatsachen sind wesentlich psychische Tatsachen, schrieb einst der Historiker Marc Bloch, davon überzeugt, dass der, der Geschichte überliefert, nie abstrahieren kann von eigenem Erleben und Empfinden. Erkenntniskritik impliziert demnach die Kritik des erkennenden Subjekts. Johannes Fried geht einen Schritt weiter, wenn er der Erkenntnis- die Gedächtniskritik einschreiben will. Für ihn hängen Wirklichkeit, Wahrnehmung und Erinnerung unauflöslich zusammen, und wenn Geschichtliches bezeugt wird, hat das für Fried immer auch anthropologische und biologische Implikationen, vor denen die Geschichtswissenschaft ihre Augen nicht verschließen dürfe.

Frieds 500-Seiten-Opus ist ein Musterbeispiel an Seriosität, Gründlichkeit und Ideenreichtum: ein Buch, das den "Schleier der Erinnerung", in dem das Geheimnis der Erkenntnis liegt, wenn schon nicht lüftet, so doch ausführlich beschreibt und begreiflich macht.

Buch-Tipp
Johannes Fried, "Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik", Verlag C. H. Beck, ISBN: 3406522114