Von Obsession und Liebe

Der Bibliothekar

Hans-Ullrich, der Protagonist in Judith Kuckarts Roman, ist so etwas wie ein "gefährdetes Wesen" und so etwas wie eine gescheiterte Existenz. Judith Kuckart erzählt die Geschichte einer gefährlichen Obsession, ein Thema, das sie persönlich fasziniert.

Rot im Gesicht beugte sich Hans über seinen Lieblingskaktus auf der Fensterbank. Da hatte er ihn gestern, am Sonntag, hingestellt. Er beugte sich tiefer, Bibliothekare waren gefährdete Wesen. Tiefer, die unfreiwillige Abstinenz zog Laster nach sich. Sie tranken viel Kaffee, aber dünn, sie quälten ihre Mütter, weil sie die richtige Frau nicht fanden, sie suchten in Büchern die Seiten mit den versauten Stellen und machten Eselsohren hinein. Hans-Ullrich beugte sich immer tiefer über den Kaktus, so dass er fast in seine geöffneten Augen stach. Bevor er Jelena kannte, hätte er ihm das sogar erlaubt. Bibliothekare waren Träumer mit trockener Haut und von aussterbender Art. Sie horteten in Zellen mit Fernheizung nicht essbare Vorräte, Holz mit Leim und Erdöl versetzt. Sie aßen in der Kantine und sonntags bei der Mutter.

Abseits aller Klischees

Mehrmals war Hans-Ullrich verheiratet, seine Kinder sieht er nie, bis auf seine Tochter Sophie, die hinter der Mauer in Berlin-Pankow wohnt und die Hans-Ullrich einmal in der Woche besucht. Aus dem Mund riecht er bereits nach Büchern und den Glauben an die große Leidenschaft hat er längst hinter sich gelassen. Ein trauriger Held, der das Klischee vom Bibliothekar allzu gut zu erfüllen scheint.

Was Judith Kuckart ihren Bibliothekar erleben lässt, hat mit Klischees allerdings gar nichts zu tun. In einer Peep-Show sieht Hans-Ullrich die verführerische Tänzerin Jelena - und verfällt ihr vom ersten Moment an. Seitdem ist in seinem Leben nichts mehr so, wie es war: Er besucht seine Tochter nicht mehr, die hinter der Mauer vergeblich auf ihn wartet, er vernachlässigt seinen Beruf, bis er ihn schließlich ganz aufgibt, er lebt nur mehr für Jelena.

Die wiederum erkennt schnell, dass Hans-Ullrich gewisse finanzielle Mittel zur Verfügung hat und schenkt ihm ihre Gunst - zunächst für Geld, später, als ihre Beziehung sich auf einem merkwürdig schmalen Grat zwischen Käuflichkeit und Affekt bewegt, auch umsonst. In einer Pension treffen sich die beiden, er, um seine Leidenschaft auszuleben, sie auf der Suche nach einer Perspektive, denn mit 28 neigt sich ihre Karriere dem Ende zu.

Die finstersten Abgründe der Leidenschaft

Judith Kuckart erzählt die Geschichte einer gefährlichen Obsession. Sie jagt Hans-Ullrich und Jelena durch die finstersten Abgründe der Leidenschaft. Während der Bibliothekar langsam den Halt verliert und sich sein bisheriges Leben aufzulösen scheint, bleibt Jelena auf Abstand, sie lockt und stößt zurück, spielt ein Spiel, das unvermeidlich auf die Katastrophe zusteuert.

Fast erscheint Judith Kuckarts Roman wie ein in Worte gegossener Tanz, ein düsteres Menuett, in dem die zwei Protagonisten sich umeinander drehen, einander verlassen und wiederfinden, bis zum tödlichen Finale. Die Sprache ist verschlungen und kunstvoll, die Sätze folgen einem eigenen Rhythmus, in dem sich Kuckarts Vergangenheit als Tänzerin zu spiegeln scheint. Tatsächlich, so meint sie, könne sie aus dieser Vergangenheit einiges in ihren Texten umsetzen.

Bereits 1998 wurde Kuckarts Roman "Der Bibliothekar" erstmals veröffentlicht und schon damals von der Kritik begeistert aufgenommen. Auch Jahre später hat das Werk nichts von seiner Anziehungskraft verloren

Buch-Tipp
Judith Kuckart, "Der Bibliothekar”, Droemer Knaur Verlag, ISBN: 3426616998