Die Grauschattierungen des Lebens

Die grauen Seelen

Mit poetischer Feder malt Claudel das Bild einer französischen Kleinstadt, hinter deren ruhiger Fassade es gärt und brodelt, in der sich Dramen abspielen und der Alltag trotzdem immer den gleichen Gang zu gehen scheint.

Sie sah aus wie eine Märchenprinzessin mit bläulichen Lippen und weißen Lidern. Ihre Haare zerflossen ins vom Morgenfrost rötlich verfärbte Gras, ihre kleinen Hände hatten sich um ein Nichts geschlossen. So kalt war es an jenem Tag, dass die Schnurrbärte aller Anwesenden sich mit Reif überzogen, während sie die Luft wie Stiere ausatmeten.

Die Vorfälle damals

Eine kleine Stadt im Osten Frankreichs, mitten im Ersten Weltkrieg. Die Frontlinie ist nur wenige Kilometer entfernt, immer wieder hört man Kanonen oder sieht zerlumpte Soldaten durch die Straßen streifen. Aber die kleine Stadt ficht ihren eigenen Krieg aus, seit an einem Dezembertag die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden wird; es handelt sich um die Tochter des Gastwirts, genannt Belle-de-Jour.

Ausgehend von diesem Mord beginnt der Erzähler, ein ehemaliger Polizist, sich an die damaligen Vorfälle zu erinnern. Er erinnert sich an die Lehrerin, die ein paar Jahre zuvor in der Stadt aufgetaucht war und alle mit ihrer Schönheit bezaubert hatte, selbst den zurückgezogenen und griesgrämigen Staatsanwalt Destinat.

Er erinnert sich an den unerwarteten Selbstmord der Lehrerin, der die Stadt schockierte. Er erinnert sich an die Suche nach dem Mörder des kleinen Mädchens und daran, wie zwei Unschuldige bitter dafür büßen mussten. Und er erinnert sich an seine Frau Clémence, die einsam sterben musste, weil er nicht bei ihr sein konnte, und die ihn dennoch nie verlassen hat.

Skurril, aber glaubwürdig

Philippe Claudel lässt eine Reihe von skurrilen, darum aber nicht weniger glaubwürdigen Personen aufmarschieren: den dicken und abstoßenden Richter Mierck, den Gastwirt Bourrache, den einsamen Staatsanwalt Destinat, die schöne und geheimnisvolle Lehrerin Lysia - Personen, die alle ein Stück des Autors widerspiegeln: "Jedes meiner Bücher ist auch eine Art verstreute Autobiografie, in allen Personen, in den guten wie auch in den schlechten, bin ich selbst."

Mit poetischer Feder malt Claudel das Bild einer französischen Kleinstadt, hinter deren ruhiger Fassade es gärt und brodelt, in der sich Dramen abspielen und der Alltag trotzdem immer den gleichen Gang zu gehen scheint. Sprachlich geschliffen arbeitet sich der Autor durch die Seelen seiner Protagonisten, schreibt manchmal lyrisch, manchmal brutal, aber immer mit jener Musik im Ohr, die er zum Schreiben braucht: "Eine Sprache besteht aus wenigen Worten und Phrasen und der Schriftsteller ist der, der dieses ins Licht bringt, in Szene setzt", sagt Claudel.

Manchmal gut, manchmal böse

"Die grauen Seelen" ist ein feinsinniger, poetischer und wunderschöner Roman, ein Buch, das berührt und selbst nach Beendigung der Lektüre noch nachhallt. Liebevoll arbeitet Claudel die Grauschattierungen im Leben heraus. Seine Figuren sind "graue Seelen", manchmal gut und manchmal böse.

Dreieinhalb Jahre lang hat Philippe Claudel an seinem Buch gearbeitet - und er würde wohl heute noch daran schreiben, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, zum Ende zu kommen: "Ich hätte auch noch Jahre weiterschreiben können. Aber ich bekam Angst, die Musik zu verlieren, die Erzählerstimme. Da wusste ich, dass ich es beenden musste."

Musik zwischen den Worten

Diese Musik ist es, die man bei der Lektüre von Claudels Buch vernimmt, eine manchmal düster-schwermütige, manchmal auch heiter-ironische Musik, die zwischen den Worten durchschimmert und dem Roman eine wunderbare Leichtigkeit verleiht. Dieselbe Leichtigkeit vielleicht, mit der Claudel alle seine Romane schreibt.

Buch-Tipp
Philippe Claudel, "Die grauen Seelen”, Rowohlt Verlag, ISBN 3498009303