Erleuchtungsgeist in weiblicher Gestalt

Die Grüne Tara

Eine freundlich dreinschauende, grünhäutige Schönheit im Lotossitz: Das ist die Grüne Tara. Sie ist im tibetischen Buddhismus eine der vielen Buddha-Emanationen - keine Göttin, aber von den Menschen wie eine Göttin verehrt. Sie gewährt den Menschen Hilfe und Schutz.

Statement der Buchautorin Sylvia Wetzel zur Grünen Tara

Die Grüne Tara verkörpert im tibetischen Buddhismus die weibliche Gottheit an sich. In Tibet nennt man sie "Dölma", was einfach Mutter bedeutet. Sie wird dort als Mutter aller Buddhas, als mitfühlende Bodhisattva - wörtlich Erleuchtungswesen - verehrt. Nach dem Glauben des Buddhismus hat sie die Fähigkeit, ihre Anhänger zu schützen und sie aus Leid, Ängsten und Gefahren zu retten.

Ursprungsland Indien

Erste Abbildungen der Grünen Tara stammen aus Indien, wo es schon im 7. Jahrhundert eine eigene Meditationspraxis gegeben hat. Der Mönchsgelehrte Atisha hat diese Tradition dann im 11. Jahrhundert nach Tibet gebracht. Und zwei Jahrhunderte später erzählen sich die Tibeter, dass das tibetische Volk von dem Bodhisattva Tara - der weiblichen Verkörperung des Mitgefühls - und von dem Bodhisattva Avalokiteshvara - der männlichen Verkörperung der Liebe und des Mitgefühls - abstammt.

Die Schutzfunktionen der Bodhisattvas

Im Weltbild des tibetischen Buddhismus gibt es mehrere Ebenen, auf der höchsten stehen die Buddhas, danach die transzendenten Bodhissatvas. Insgesamt gibt es davon fünf Grundformen: die Weiße, Blaue, Rote, Gelbe und eben die Grüne Tara. Sie werden von den Tibetern angerufen, um vor Löwen, Elefanten, dem Feuer, vor Räubern, Schlangen, Überschwemmungen, Gespenstern und anderen Gefahren des Lebens zu schützen. Doch in der Welt des tibetischen Buddhismus gehen die materiellen und die symbolischen Bedeutungen leicht ineinander über.

Die Tara soll aber nicht nur vor materiellen Gefahren schützen, sondern auch vor allem, was einen Menschen vom Erwachen, von der Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten abhält. So gesehen, steht dann der Löwe für Stolz, und der Elefant für Verblendung, das Feuer für Zorn, die Schlange für Eifersucht, die Räuber für irrige Vorstellungen von der Welt, die Überschwemmung steht für Begierden, Fesseln stehen für Geiz und die Gespenster stehen für Zweifel.

Auf dem Weg zur Erleuchtung

Die Grüne Tara kann sich immer wieder in verschiedenen Gestalten verkörpern. Nach buddhistischem Glauben können das nur hoch erleuchtete Wesen, also Wesen, die Gier, Hass und verblendete Unwissenheit überwunden haben. Gewöhnliche Menschen werden je nach ihren Taten wiedergeboren - in einer der acht Höllen, als hungrige Geister, streitsüchtige Dämonen, als Tiere, als Götter oder als Menschen. Nur Menschen können sich aus dem Kreislauf der Wiedergeburten befreien, indem sie ein rechtschaffenes Leben führen und Meditation üben. Auf diese Weise wacht man aus den Verstrickungen des Egoismus auf und ist befreit von der Wiedergeburt. Doch das ist nicht so leicht zu erreichen, und Gestalten wie die Grüne Tara helfen den Menschen auf diesem Weg. Der Karmapa Thaye Dorje Rinpoche dazu:

“Wir nehmen Zuflucht, weil wir Erleuchtung suchen. Wir suchen das Erwachen, nicht nur für uns selbst, sondern für alle fühlenden Wesen. Wir nehmen Zuflucht zu den drei Juwelen, zum Buddha, der uns den Weg zum Erwachen zeigt, wir nehmen Zuflucht zum Dharma, das ist der Weg, der Prozess, der zur Erleuchtung führt, und wir nehmen Zuflucht zum Sangha, der Gemeinschaft, die uns davor bewahrt, in Irrtümer zu verfallen.“

Meditation in Bildern

Im tibetischen Buddhismus spielen so genannte Visualisierungen in der Meditation eine ganz wichtige Rolle: Man schafft mit Hilfe der Vorstellungskraft z. B. ein genaues Bild der Grünen Tara. Der nächste Schritt ist, dass man sich mit dem Bild der Tara identifiziert, sodass man eins wird mit Tara, wobei man sich nicht selbst in eine Grüne Tara verwandelt, sondern auch die Welt um sich wird in der Meditation zur Grünen Tara. Es geht dabei also nicht darum, sich etwas vorzustellen. Der Zweck der Übung ist, sich selbst nicht so wichtig zu nehmen und zu verstehen, dass alles miteinander aufs Innigste verbunden ist.

“Aus einem selbstbezogenen Menschen, der meint, dass er im Mittelpunkt der Welt steht, soll ein selbstloser Mensch werden. Kein Wunder, dass Geben eine ganz wichtige buddhistische Tugend ist“,

sagt Alex Berzin, Schriftsteller und Lehrer des tibetischen Buddhismus.

Wirklich ist, was wirkt

Handfeste, materielle Wirklichkeit ist im Weltbild des tibetischen Buddhismus nicht das, was gemessen und gewogen werden kann, sondern das, was wirkt. Die Grüne Tara ist wirklich, weil sie wirkt. Manche dieser Wirkungen sind allerdings für kritische Westler nicht leicht zu akzeptieren. Dass beispielsweise Statuen von selbst aus Muschelkalkfelsen wachsen können, ist beispielsweise für einen naturwissenschaftlich denkenden Menschen höchst zweifelhaft ...

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Buch-Tipps
Thubten Yeshe, "Die Grüne Tara", Diamant-Verlag Weigold, Dezember 2000, ISBN 3-9805798-2-4

Sylvia Wetzel, "Das Herz des Lotos", Fischer Tb.-Verlag, Jänner 1999, ISBN 3-596142547

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