Wendelin Schmidt-Dengler im Gespräch mit Michael Kerbler
Literatur muss um die Ecke denken
"Je länger ein Text einer gekonnten Interpretation Widerstand leistet, je länger er diese Interpretation als falsch zu überführen im Stande ist, um so länger hält er sich in seiner Qualität", meint Germanist Wendelin Schmidt-Dengler.
8. April 2017, 21:58
Schmidt-Dengler über Wirkung von Literatur
Michael Kerbler: Elfriede Jelinek hat diesen Preis auch deshalb bekommen, Zitat "weil sie als unerschrockene Gesellschaftskritikerin hervorgetreten ist." Das könnte man doch zweierlei interpretieren. Auf der einen Seite eben ihre Courage, die sie gezeigt hat. Und auf der anderen Seite ein Signal auch an andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller, sich durchaus zu erlauben und es zu wagen, auch gesellschaftskritisch sich Gehör zu verschaffen.
Wendelin Schmidt-Dengler: Ich weiß gar nicht, ob es immer notwendig ist, Autorinnen und Autoren zu Gesellschaftskritik zu ermuntern. Das ist ja doch das Eintrittsbillet, so könnte man sagen, in das Forum der Literatur und das Forum der Öffentlichkeit.
Das Entscheidende ist, dass diese Gesellschaftskritik so vorgebracht wird, dass sie nicht zur Schlagzeile verkümmert. Sie muss komplex sein. Und das hat Jelinek vor allem getan. Ich würde die Komplexität ihrer Kritik hervorheben, die eben nicht in diesem einfachen Polarisierungsschema mündet. Einfach wäre es, zum Beispiel, dass man sagt "Frauen gut, Männer schlecht". Diese einfachen Polarisierungen zu unterlaufen, gerade das ist das Entscheidende. Zu zeigen, dass Gesellschaftskritik nicht nur die Angelegenheit des moralisch guten Gewissens ist - das braucht man vielleicht auch -, aber dass es vor allem die Fähigkeit der Analytik ist, so dass die ästhetische Wahrheit nicht hinter der politischen einher hinkt.
Autorinnen und Autoren mit gutem Gewissen, die unter Umständen manchmal sich gegen den oder jenen Politiker zumindest in unserer noch vergleichsweise freien Gesellschaft aufzutreten wagen, haben wir eigentlich genug, würde ich sagen. Das Interessante ist: Welcher Autor trifft es?
Ich erinnere an Bernhard, der ja tatsächlich ohne viel zu sagen immer getroffen hat. Während viele andere Autoren - ich erinnere an die Affäre Waldheim - sich publizistisch betätigt haben, aber kaum so wahrgenommen wurden wie Thomas Bernhard, der einfach nur sagt "Ich schreibe ein Stück Heldenplatz". Da waren alle sofort aufgeregt, obwohl sie überhaupt nicht wussten, was in dem Stück vorkommt. Aber er hat es verstanden, diese Leerstelle so schön zu platzieren, dass die Erregung garantiert war.
Müssen wir uns um die literarische Sprache der Elfriede Jelinek, der Friederike Mayröcker, des Peter Handke oder des Peter Turrini sorgen?
Ich glaube schon. Ich habe das Gefühl, dass man hier auf verlorenem Posten zu stehen scheint. Literatur denkt im positiven Fall immer um eine Ecke. Auch ein Shakespeares Macbeth ist um eine Ecke gedacht. Aber nur, weil man um eine Ecke geht und nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten wählt, entdeckt man das, was rundherum ist.
Die Sprache der Literatur ist sensibel, fragil. Und sie ist immer wieder zerschlagen worden. Der letzte große Mord an der Literatur geschah ja durch eine falsche Sprache des Nationalsozialismus. Da hat man gezeigt, was man mit Literatur machen kann.
Aber! Und das ist wieder das Tröstliche: Übergeblieben sind die Zeugen der Literatur dieser Epoche. Wenn wir nicht jene hätten, die über diese Epoche geschrieben hätten, Dokumente hinterlassen hätten - ich denke an Bertold Brecht oder Paul Celan -, wenn wir nicht diese Stimmen hätten, dann wäre die Welt wohl um einiges ärmer.
Das sollen alle jene bedenken, die gegen Literatur vorgehen. Je mehr Respekt wir vor der Literatur haben, je mehr wir ihr mit Achtung begegnen, umso besser wird unsere Epoche einmal in Zukunft dastehen.
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