Über Euthanasie, Palliativmedizin und Pflegenotstand
Dürfen wir sterben helfen?
Unsere Gesellschaft in den westlichen Industrienationen wird immer älter. Die kontinuierlich ansteigende Lebenserwartung führt - verbunden mit medizinischem Fortschritt - zu neuen Phänomenen des Sterbeprozesses, die auch ethisch neue Probleme aufwerfen.
8. April 2017, 21:58
Der deutsche Theologe Thomas Klie über Sterbehilfe
Unsere westliche Gesellschaft wird immer älter. Die Lebenserwartung steigt kontinuierlich an. Verbunden mit dem medizinischem Fortschritt führt das zu neuen Erscheinungsformen des Sterbeprozesses. So wurde seit einigen Jahren der Ruf nach Sterbehilfe laut. Gegen die "Tötung auf Verlangen" gibt es aber gewichtige ethische Einwände.
Der Ruf nach aktiver Sterbehilfe
Dem Tod geht oft eine längere Phase der Krankheit und Pflegebedürftigkeit voraus. Mit der höheren Lebensdauer steigt die Zahl der Menschen, die an Demenzerkrankungen mit starker Persönlichkeitsveränderung leiden. Kein Wunder, dass in dieser Situation seit einigen Jahren immer mehr über aktive Euthanasie diskutiert wird.
Beispiel Holland
Die Holländer haben sogar vor zwei Jahren die Lebensbeendigung auf Verlangen einschließlich der Hilfe bei der Selbsttötung unter bestimmten Voraussetzungen für straffrei erklärt. In der niederländischen Sterbehilfe-Debatte gaben zwei Argumente den Ausschlag für ein positives Votum der Parlamentarier für ein Euthanasie-Gesetz:
Das Autonomie-Argument
Jeder Mensch hat ein Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, was auch einschließt, dass er den Moment und die Art und Weise seines Sterbens selbst wählen soll und Ärzte das zu respektieren haben.
Das Leidens-Vermeidungs-Argument
Unnötiges Leiden soll bei einem terminal erkrankten Menschen vermieden oder beendigt werden.
Befürworter der aktiven Euthanasie argumentieren, dass vor drei Jahren in Holland die letzte repräsentative Untersuchung über Sterbehilfe auf Verlangen durchgeführt wurde. Das Ergebnis: 7000 Menschen haben sich 2001 für aktive Sterbehilfe entschieden, bei 3.800 wurde diese mit einer tödlichen Spritze durchgeführt. In den restlichen Fällen verstarb der Patient vor der Durchführung oder die Ärzte weigerten sich an der aktiven Euthanasie teilzunehmen.
Ethische Einwände
Gegen die Tötung auf Verlangen gibt es gewichtige ethische Einwände. Der Jurist und evangelische Theologe Thomas Klie ist Professor für öffentliches Recht an der Evangelischen Fachhochschule Freiburg/Breisgau. Er sieht das Hauptproblem darin, dass es im modernen Medizin-Alltag zahlreiche Grauzonen gebe, in denen zwischen Sterben-Lassen und aktiver Lebensbeendigung nicht mehr klar unterschieden werde.
Zur ethischen Beurteilung sei aber eine genaue Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe und assistiertem Suizid notwendig, meint der Theologe. In diesem Zusammenhang kritisiert er auch, dass Ärzte in Deutschland unter dem Mantel der schmerzlindernden Medikamentengabe häufig auch das Ziel der Lebensverkürzung anpeilen würden.
Zeitproblem der Ärzteschaft
Ein Pionier der schmerzlindernden Palliativ-Medizin in Skandinavien ist der norwegische Arzt Stein Husebö. Für ihn besteht das größte Dilemma der Medizin in der fehlenden ethischen Kultur. Im unter großen ökonomischen Zwängen stehenden Gesundheitssystem fehle es bei den Ärzten an Zeit und an Bewusstsein für die eingehende Kommunikation mit den Patienten. Husebö kritisiert:
"Aus Angst vertreten viele Mediziner die Haltung, das Leben eines Sterbenden müsse um jeden Preis erhalten werden. Dann wird eben alles, was machbar ist, auch gemacht. Ärzte lernen nicht, dass es auch eine Kultur des Sterbenlassens gibt."
Zu wenig Pflegepersonal
Der Theologe Andreas Heller, Leiter der Abteilung Palliative Care und Organisationsethik an der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung an den Universitäten Klagenfurt, Graz und Wien, weist darauf hin, dass sich in den nächsten 50 Jahren die Zahl der hilfs- und pflegebedürftigen Alten verdoppeln werde:
"Unser derzeitiges Gesundheitssystem ist dafür nicht gerüstet. Zu viele Betten im Akutbereich stehen fehlenden Möglichkeiten im Langzeit- und Pflegebereich gegenüber. Deshalb muss heute ein radikaler Umbau des Spitals- und Pflegewesens in Angriff genommen werden."
Neues ärztliches Bewusstsein
Für das medizinische Handeln ist neu zu Bewusstsein zu bringen, dass nicht jedes ethisch verantwortete Lassen gleichbedeutend mit einem Unterlassen ist. Die Grenzen unseres Handelns, auch der Medizin, müssen darum in jeder Situation neu bestimmt werden. Das gilt auch an den Grenzen des Lebens.
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