50. Jahrestag eines blutigen Unabhängigkeitskriegs
Algérie algérienne
Vor genau 50 Jahren begann in Nordafrika ein Konflikt, der die Unabhängigkeitsbestrebungen in vielen Kolonien, aber auch die Entwicklung Frankreichs prägen sollte: der Algerien-Krieg. Damals sprach man allerdings nur von "Terrorismus".
8. April 2017, 21:58
Der Historiker und Soziologe Mohamed Harbi über Folterungen
Erst vor 42 Jahren konnte sich Algerien von der mehr als 130 Jahre währenden Vorherrschaft des französischen Kolonialismus befreien - allerdings zu einem sehr hohen Preis: ein acht Jahre dauernder Unabhängigkeitskrieg kostete auf algerischer Seite rund eine Million Tote und zahlreiche Folteropfer. Die damals Beteiligten beginnen erst heute über Greueltaten zu reden: Kollektives Vergessen oder ein Verdrängen, das die unterschiedlichen Meinungen kaschieren soll?
Heute vor 50 Jahren
50 Jahre ist es her, als 1954 in der Nacht des 1. November an 30 verschiedenen Orten des Landes, Sprengsätze explodierten und insgesamt sieben Algerienfranzosen getötet wurden. Das Manifest der Nationalen Befreiungsbewegung FLN lautete damals:
"Algerien hat einen großen und grandiosen Kampf für die Freiheit und den Islam begonnen. Heute, am 1. November 1954, um 1 Uhr morgens, hat Algerien angefangen, ein ehrenhaftes Leben zu leben. Eine mächtige Elite freier Kinder Algeriens hat den Aufstand für die algerische Freiheit ausgelöst - gegen den tyrannischen, französischen Imperialismus in Nordafrika. Unsere Aktion richtet sich gegen den Kolonialismus, der sich stets geweigert hat, uns auch nur die geringsten Freiheiten zuzugestehen, die wir mit friedlichen Mitteln erreichen wollten."
Frankreichs Machtdemonstration
Die Regierung in Paris reagierte darauf in erster Linie mit Härte. Vorerst wurden Vietnam erfahrene Fallschirmjägertruppen nach Algerien entsandt, rund 2.000 Anhänger der nationalistischen algerischen Bewegung MTLD wurden wahllos verhaftet. Doch der Ausbruch eines Kolonialkriegs, der seinen Namen nicht nennen wollte, war nicht mehr zu vermeiden: Innerhalb kürzester Zeit wurde der Wehrdienst in Frankreich auf 27 Monate verlängert und die militärische Präsenz in Algerien von 80.000 auf 400.000 Mann erhöht. Der Armee wurde die Polizeigewalt übertragen, der Sozialist Robert Lacoste als Generalgouveneur mit quasi diktatorischen Vollmachten ausgestattet.
Erst nach und nach häuften sich in Frankreich kritische Stimmen, vor allem, als durchgedrungen war, dass in Algerien auch gefoltert wurde. Die Vorgangsweise der französischen Armee wurde beispielsweise vom ehemaligen Widerstandskämpfer Claude Bourdet mit "Gestapo-Methoden" verglichen.
Waffenstillstand und Unabhängigkeit
Erst acht Jahre später, am 18. März 1962, unterzeichnete die französische Regierung in Evian am Genfersee mit der FLN ein Waffenstillstandsabkommen. Die Übergangszeit bis zur algerischen Unabhängigkeit am 3. Juli 1962 und die anschließende Rache der Sieger verliefen allerdings in einem Chaos: Auf der einen Seite gab es - neben einem insgesamt gedemütigten Frankreich - eine Million Algerienfranzosen, die innerhalb weniger Wochen alles zurücklassen und in Frankreich wieder einen Platz finden mussten - auf der anderen Seite die Algerier, die rund 500.000 Tote in diesem Krieg zu beklagen hatten und die Zwangsumsiedlung von ca. zwei Millionen Personen nicht vergessen konnten. Denn das unabhängig gewordene Algerien war in die Hand der Armee und einer Kaste von hohen Parteifunktionären geraten.
Französisches Trauma bis heute
Im Juli 1968 wurde eine Amnestie für alle in Algerien begangenen Kriegsverbrechen erlassen. Aus der Sicht der Gaullisten und auch der oppositionellen Linken war dies der Preis für die Wiederversöhnung der Nation. Die zugesicherte Straflosigkeit erwies sich auch als effizientes Instrument einer kollektiven Verdrängung. Denn die Franzosen wollten von diesem verlorenen Krieg nichts mehr wissen. Ein Trauma begann, das bis dato noch nicht verarbeitet ist.
Erst 1999 - also 37 Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens - anerkannte man bei einer feierlichen Abstimmung im Parlament, dass es sich bei den so genannten "Ereignissen" zwischen 1954 und 1962 nicht einfach um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordung, sondern sehr wohl um einen Krieg gehandelt hat.
Bis dato kein "Mea Culpa"
Was die Folterungen durch Armee und Spezialeinheiten angeht, über die die verantwortlichen Politiker in Paris damals sehr wohl informiert waren, ist Frankreich auch heute noch nicht zu einem "Mea Culpa" bereit. Dies beweisen die jüngsten Diskussionen über Folterpraktiken in jener Zeit. Der ehemalige Außenminister Hervé de Charette bezeichnete sie als Kampagne, die seines Landes nicht würdig sei und ausschließlich die Ehre der französischen Armee beschmutzen soll. Aber auch auf algerischer Seite kann von Aufarbeitung keine Rede sein. Der Soziologe und Historiker Mohammed Harbi meint dazu:
"Erst wenn die Algerier eines Tages akzeptieren, dass auch das französische Element Teil ihrer Gesellschaft und ihrer Geschichte ist - erst dann werden sie auf die Franzosen zugehen und danach erst endlich den nötigen Abstand herstellen können. Heute sind sie dazu noch nicht in der Lage."
"Tochter einer Rabenmutter"
Treffend beschreibt eine 55-jährige Lehrerin in Algier die gemischten und oft widersprüchlichen Gefühle der Algerier gegenüber Frankreich:
"Es gibt diese Dualität. Eine sehr starke Beziehung aus Liebe und - nicht Hass, aber Ressentiments. Es ist wie mit der Rabenmutter und ihren Kindern. Die Rabenmutter ist Frankreich und Algerien die Tochter. Wie wenn man jemanden zu sehr liebt, dann grollt man ihm, wenn er diese Liebe nicht genügend erwidert. Ich habe Ressentiments gegenüber Frankreich, weil es das Unrecht nicht anerkennt, das es an Algerien begangen hat und die Chance vertan hat, privilegierte Beziehungen zwischen beiden Ufern des Mittelmeers zu aufzubauen."
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